Siegen. Er hatte fast vergessen, dass er sich hatte typisieren lassen: Plötzlich wird Fabian Dancker zum Retter. Wie dankbar die Familie ist.

Wenn sie manchmal abends im Bett ihrer Tochter liegt, spürt Anne Rogotzki eine überwältigende Dankbarkeit. Es hätte ganz anders kommen können. Die junge Berliner Familie feierte gerade Annabels ersten Geburtstag, da kam die Diagnose: Blutkrebs. Das kleine Mädchen, gerade erst auf der Welt, so verletzlich – und plötzlich dem Tode so nahe. Im fernen Netphen in Siegen-Wittgenstein beginnt das Wunder von Annabels Gesundheit, als Fabian Dancker als Spender ausgelesen wird. Er hat die passenden Stammzellen. Das lebensrettende Knochenmark.

Keine Angst, keine Zweifel

Als Fabian Dancker sich 2012 mit dem Freundeskreis bei einer Typisierungsaktionals Stammzellenspender registrieren lässt, lebt seine „genetische Zwillingsschwester“ noch lange nicht. Gerade ein Jahr alt ist Annabel, als sie 2020 die Diagnose Blutkrebs bekommt. Damit ist sie einer von 13.570 Menschen, die in Deutschland in diesem Jahr die Diagnose bekommen. „Es war direkt klar, dass sie eine Hochrisikopatientin ist, und dass eine Chemotherapie nicht ausreichen wird“, erinnert sich Annabels Mutter. Für sie: „Das Schlimmste.“

Das DKMS findet schließlich in Fabian Dancker den Spender, der am besten passt, und schickt ihm eine E-Mail. „Ich hatte ehrlich gesagt gar nicht mehr auf dem Schirm, dass ich mich registriert hatte“, sagt er heute. Kein Wunder, zwischen den beiden Ereignissen liegen neun Jahre. „Ich konnte es nicht fassen, ich war ungläubig, dass da etwas kommt – jetzt“, erinnert er sich. Dennoch überlegt Fabian Dancker damals nicht eine Sekunde. Er zögert nicht. Hat keine Zweifel. Keine Angst. Obwohl er nicht wusste, was auf ihn zukommt. „Damit beschäftigt man sich erst, wenn es so weit ist.“

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Häufig höre er von Bekannten die Überzeugung, Spender zu sein, sei sehr schmerzhaft und gefährlich. Dieses Gerücht habe sich so durchgesetzt, sagt Fabian Dancker, und will dagegen ankämpfen: „Bei neun von zehn Spendern läuft das Verfahren mit Dialyse, und selbst bei der OP ist das Gefährlichste die Vollnarkose. Es ist eine so kleine Tat mit einem so großen Effekt.“ Schläuche ja, aber keine Schmerzen – davon berichtet er.

Drei Monate Isolation: „Tag und Nacht bei ihr“

Nach der Spende versucht der Vermessungsingenieur nicht allzu viel über den erkrankten Menschen, dem er helfen will, nachzudenken – „es kann ja auch schiefgehen.“ Zwei Jahre Anonymität schreibt ohnehin die DKMS vor. „Nach wenigen Monaten habe ich dann die Info bekommen, dass es sich um ein kleines Mädchen zwischen 0 und 5 Jahren handelt“, erzählt er. Nicht zu viele Gedanken machen, sagt er sich, auch wenn es nicht so leicht aus dem Hinterkopf geht. Ob er über den Gesundheitszustand der Erkrankten auf dem Laufenden gehalten werden möchte, wird er gefragt. Er möchte.

Spielen im Garten des Bundespräsidenten in Berlin: Fabian Dancker aus Netphen hat der heute vier Jahre alten Annabel mit einer Stammzellenspende das Leben gerettet.
Spielen im Garten des Bundespräsidenten in Berlin: Fabian Dancker aus Netphen hat der heute vier Jahre alten Annabel mit einer Stammzellenspende das Leben gerettet. © Julia Steinigeweg/DKMS | Julia Steinigeweg

In Berlin erhält die 15 Monate alte Annabel schließlich die Spende, die ihr Leben rettet. Ihre Mutter spricht offen über die ungeheuer schwere Zeit: „Vor der Diagnose war sie gesund. Binnen eines Monats ging es ihr so schlecht, sie wäre fast gestorben.“ Dann geht alles schnell, bloß ein dreiviertel Jahr verbringt die kleine Familie im Krankenaus. Ein Eingriff, der lebensbedrohlich sein kann. Drei Monate Isolation für Annabel, weil ihr Immunsystem quasi nicht existiert. „Einer von uns konnte zum Glück immer bei ihr sein, Tag und Nacht.“ Mit Maske und Kittel und allem Drum und Dran. Aber immerhin bei ihr.

Und dann wird Annabel langsam gesund.

„Toi, toi, toi“, sagt ihre Mama noch heute. Auch Fabian Dancker erreicht die positive Nachricht. „Ein Jahr nach der Spende konnten wir uns dann kennenlernen, vorerst anonym über die DKMS“, berichtet er. Nach zwei Jahren auch persönlich. „Ich habe da den Eltern der Kleinen den Vortritt gelassen. Natürlich habe ich mich gefreut, dass ihrerseits dann das Interesse bestand, einander kennenzulernen“, sagt er lächelnd. Annabels Eltern und er bauen Kontakt auf, der 39-Jährige sieht die Vierjährige das erste Mal auf Bildern – ein gesundes, aufgewecktes Mädchen.

Annabel und Fabian Dancker treffen einander

Im Juli 2023, mehr als zwei Jahre nach der Spende, treffen Annabel und Fabian Dancker sich zum ersten Mal - auf Schloss Bellevue, Amtssitz des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, wo Annabels Vater arbeitet. In Worte fassen kann Fabian Dancker auch heute noch nicht, wie es für ihn war. „Einfach schön“, sagt er nach kurzer Zeit. „Besonders, sich von Gesicht zu Gesicht zu sehen.“ Der Anflug eines Lächelns, in seinen Augen blitzt Freude. Auch Anne Rogotzki ist sprachlos – sie vermag kaum, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen. Für sie ist es ein Wunder. Ihre Tochter Annabel kennt Fabian Dancker als jemanden, der ihr geholfen hat, gesund zu werden. Irgendwann wird sie es genauer verstehen.

Im Juli in Berlin: Elke Neujahr, DKMS-Geschäftsfüherin, Vanessa Dancker, Marc Rogotzki mit Tochter Romy, Anne Rogotzki mit Tochter Annabel, Fabian Dancker und Elke Büdenbender, Ehefrau von Bundespräsident Steinmeier, stehen im Schloss Bellevue (v.l.)
Im Juli in Berlin: Elke Neujahr, DKMS-Geschäftsfüherin, Vanessa Dancker, Marc Rogotzki mit Tochter Romy, Anne Rogotzki mit Tochter Annabel, Fabian Dancker und Elke Büdenbender, Ehefrau von Bundespräsident Steinmeier, stehen im Schloss Bellevue (v.l.) © dpa | Bernd von Jutrczenka

Was er denkt, lässt sich Fabian Dancker kaum anmerken, lächelt immer mal wieder beim Erzählen. Ihm selbst sei nie der Gedanke gekommen, dass er Annabel das Leben gerettet habe. „Wenn ich es nicht gemacht hätte, dann der nächstpassende auf der Liste“, sagt er. „Und wenn ich jemandem helfen kann, stellt sich für mich die Frage nicht, ob ich es tue“, erklärt er. Auch ein zweites Mal würde er nicht zögern, zu spenden.

Eine neue Freundin

Jetzt liegt ihm besonders eins am Herzen: „Ich mache mich jetzt für die Sache stark“, sagt er. „Ich will die Werbetrommel rühren, aus den 12 Millionen noch ein paar mehr machen.“ Er kämpft an der Seite von Annabels Mutter, die das gleiche Ziel hat: „Lasst euch registrieren“, sagt sie. Nur bis zum Alter von 60 Jahren kann man spenden, viele potenzielle Spender sind gerade jetzt also dabei, zu alt zu werden, und neue werden gebraucht. Auch sie hat sich registrieren lassen: „Es ist super, zu spenden, Leben retten ist toll!“

Stammzellenspender werden

Im Volksmund spricht man beim passenden Stammzellenspender für einen an Leukämie erkrankten Patienten häufig vom „genetischen Zwilling“. So ganz trifft diese Bezeichnung nicht zu: Bei der Typisierung von Spendern wird nur ein sehr kleiner Teil der DNA betrachtet. Zehn Merkmale, um genau zu sein. Wenn acht von zehn Merkmalen übereinstimmen, hat man einen potenziellen Spender für den Patienten - einen „genetischen Zwilling“. Die Wahrscheinlichkeit kann bei 1 zu mehreren Millionen liegen.

Im Jahr 2020 wurden bei etwa 13.500 Personen in Deutschland Leukämien diagnostiziert, davon waren gut vier Prozent unter 15 Jahre alt.

Um spenden zu dürfen, müssen Sie unter 60 Jahre alt sein, gesund sein und mehr als 50 Kilogramm wiegen. Bei passendem Patienten erfolgt eine Bestätigungstypisierung durch eine Blutprobe. Die Spende findet dann meist per Dialyse statt - nur in einem von 10 Fällen mit einer kleinen Operation. Meist dauert der Prozess nur wenige Stunden.

Spender werden kann man bei der DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei). Dazu können sich Interessierte unter https://www.dkms.de/aktiv-werden/spender-werden online ein Registrierungsset bestellen und zuschicken lassen. Stäbchen rein, Spender sein - heißt es dann. Zu Hause, ohne weiteren Aufwand.

Heute, zwei Jahre nach der lebensverändernden Spende, sind alle wieder im Alltag angekommen. „Manchmal liege ich noch abends mit Annabel im Bett, und… weiß es richtig wertzuschätzen“, sagt die Mutter der Vierjährigen. Die Untersuchungen sind selten geworden, es schaut alles gut aus – toi, toi, toi. Annabel ist mittlerweile große Schwester geworden. Und Fabian Dancker? Auch er ist vor Kurzem Papa geworden. Was sich mit seiner Spende für ihn verändert hat? Er denkt kurz, lächelt: „Eigentlich nichts. Ich habe eine neue Freundin dazu gewonnen.“