Finnentrop. Der Kapuzinermönch Bruder Joachim Wrede lebt mitten im Sauerland als Eremit. Er sucht Gott in der Stille und übt das Loslassen - auch von Besitz.
Wie mag er wohl aussehen, der Eremit? Ein hagerer Zausel mit zottigem Bart - wie auf den Gemälden der Alten Meister? Ein grimmiger Menschenverächter? Bruder Joachim Wrede öffnet die Tür des alten Pfarrhauses in Schliprüthen mit fröhlich blitzenden Augen. So lacht nur jemand, der die Welt mag. Wir wollen über die Stille sprechen, das kostbarste Gut unserer Zeit. Und über das Geheimnis von Weihnachten. Über die Einsamkeit. Und über den Überfluss, der an uns hängt wie goldene Ketten.
„Ich bin kein guter Konsument mehr“, konstatiert der Mönch sachlich. „Ich bin auch nicht mehr so gläubig, wie andere das gerne möchten. Ich bin nicht nicht-kirchlich. Wir müssen den Weg alle miteinander gehen, und ich unterstütze das. Aber ich habe einen anderen Auftrag.“ Joachim Wrede, 69, Sauerländer aus Warstein, ist Kapuziner, ein minderer Bruder vom eremitischen Leben. Die Kapuziner sind ein sogenannter Bettelorden, ein spätmittelalterlicher Reformzweig der Franziskaner. Ihr Auftrag ist es, arm durch die Welt zu wandern und Gott in Stille und Gebet zu suchen.
„Wir hatten die Kontemplation vergessen“, resümiert Bruder Joachim. „Erst durch die Patres, welche die Zen-Meditation nach Europa gebracht haben, wurde deutlich, dass es auch eine uralte christliche Tradition der Kontemplation gibt.“ Kontemplation bedeutet Innenschau in der Stille, in der Meditation, also das, was in der hektischen Gegenwart zu kurz kommt. Der Einsiedler sieht seine Berufung darin, die verlorene Mystik im Heute wiederzuentdecken und weiterzugeben.
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Bruder Joachim lacht. Er weiß selbst, wie verrückt sich sein Lebensentwurf anhört. Die Kapuziner waren immer radikal, standen oft unter Verdacht, in der Kirche und in der Gesellschaft. Denn sie besitzen nichts. Sie wollen nichts haben, wofür andere ausgebeutet werden. „Wie können wir uns Gegenstände aus Silber und Gold in unsere Kirchen stellen, wenn andere Menschen sich dafür krumm schuften mussten?“ Und sie wollen die Schöpfung bewahren. Bruder Joachim trägt die Kleidung seines älteren Bruders auf. Er hat Fernseher und Computer, aber kein Smartphone. Im Urlaub fährt er zelten, am liebsten auf eine Wiese. Der Sauerländer wirkte in verschiedenen Klöstern seines Ordens, hat lange Jahre bei einem indigenen Volk in Südmexiko gearbeitet und schließlich gebeten, eremitisch leben zu dürfen.
Das heißt: Er meditiert morgens und abends jeweils zwei Stunden, häufig auch noch mal eine Stunde in der Nacht. Er sitzt also rund fünf von 24 Stunden schweigend und reglos und blickt in sein Innerstes. Wie hält man das aus? „Das ist eine Sache von Erfahrung, und in Erfahrung muss man einsteigen. In religiöse Innenerfahrung einzusteigen, dafür braucht es Übung. Schweigen, Stille, das macht den heutigen Menschen Angst.“
Aber warum sollte ein Mensch so viele Stunden am Tag in sich hineinblicken? Jetzt kommen wir zu Weihnachten. Oder zu dem Mystiker Angelus Silesius: „Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir: Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“ Bruder Joachim sagt: „Christus ist in dir geboren, in jedem. Christus ist immer in jedem Menschen geboren. Die Tiefe des Weihnachtsfestes findet eigentlich immer statt.“
Hildegard von Bingen wird als erste Vertreterin der deutschen Mystik betrachtet. Heute gilt der Begriff Mystik eher als Sammelbezeichnung für Esoteriker und Abgedrehte. Bruder Joachim möchte das ändern. „Das Transzendente ist real, aber der heutige Mensch hält das Transzendente nicht mehr für möglich. Früher wurde das Leben gelebt. Heute kann man sich darum herummogeln. Es geht nicht ums Denken und um Theorien. Gott ist keine Theorie, sondern lebendig. Gott wird Mensch. Gott ist Mensch in uns Menschen, auch das ist ein Wunder, wie es in Jesus Christus in wunderbarer Weise manifest geworden ist. Aber es betrifft jeden von uns. Das ist das vergessene Geheimnis.“
Fürs Foto zieht Bruder Joachim den Kapuziner-Habit an, mit der namensgebenden Kapuze. „Ich kann auch das Klischee bedienen“, sagt er heiter. Er könne sich gut vorstellen, in einer Hütte im Wald zu leben, eben wie auf den Gemälden der Alten Meister. Einmal war es schon soweit. Die Klus Eddessen in Borgentreich im Kreis Höxter suchte einen neuen Einsiedler oder eine Einsiedlerin. Bruder Joachim bewarb sich und zog ein. Doch rund um die Klause standen damals bereits sieben Windräder. Der Kapuziner wurde von deren Geräuschemissionen krank. Jetzt macht ihm die Windkraft-Diskussion in Südwestfalen Sorgen. „Es gibt ja fast keine zusammenhängenden Naturflächen mehr außer bei uns im Sauerland. Im Wald Windräder aufzustellen, ist eine Naturzerstörung sondergleichen. Wenn wir den Wald jetzt für Windkraft über die Klinge springen lassen, zerstören wir den kommenden Generationen noch das letzte Refugium. Wir müssen begreifen, dass wir Teil der Natur sind. Aus der Natur, aus dem Wald spricht das Göttliche.“
80 Eremiten in Deutschland
Gut 80 Eremiten gibt es im deutschsprachigen Raum, zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Es handelt sich um eine der ältesten Formen der Nachfolge Jesu Christi. Eremiten sind allein, nicht einsam. Sie sind allein mit Gott. Sie leben in abgeschiedenen Klausen, aber auch in Hochhäusern. Man unterscheidet zwischen Diözesaneremiten, deren Lebensform vom jeweiligen Ortsbischof anerkannt wird und Ordensleuten aus den eremitischen Orden. Die deutschen Einsiedler treffen sich alle drei Jahre.
Doch Bruder Joachim ist auch Priester. Er unterstützt den örtlichen Pfarrer und bietet Meditationskurse an, zum Beispiel beim Festival Spiritueller Sommer. Damit kommt er für seinen Lebensunterhalt auf. Das Konzept der Armut bringt die Kapuziner in der Gegenwart in Bedrängnis. „Wir haben nie Besitz angehäuft, Grundbesitz, Gebäude. Wir haben keine Rentenversicherung.“ Die Kapuziner finanzieren sich ausschließlich über Spenden und Einkünfte der Brüder. Früher unterstützten adlige oder bürgerliche Stifter den Orden in der Gewissheit, damit etwas für ihr Seelenheil zu tun. Das ist vorbei. Es gibt in Deutschland und den Niederlanden nur noch rund 140 Kapuziner, viele von ihnen sind alt. Das Kloster in Münster, zu dem Bruder Joachim gehört, ist jedoch im Eigentum des Ordens, und es soll zukunftsfest gemacht werden, mit gastronomischen Angeboten oder Vermietung von Coworking Spaces. Darüber diskutieren die Brüder derzeit.
Keine Realitätsflucht
Die eremitische Lebensform bedeutet nicht, aus der Realität auszusteigen oder sie zu verweigern. Sie bedeutet schlicht, die Prioritäten anders zu setzen. „Es geht ums Loslassen“, sagt Bruder Joachim. „Die Ichaktivitäten loslassen. Wir halten unser Ich so gerne fest, wir wollen auf unsere Privilegien nicht verzichten. Das bereitet die großen Probleme weltweit.“ Über sich selbst kann Bruder Joachim sagen: „Ich habe gefunden, was ich gesucht habe, die Balance zwischen dem persönlichen Hineinwachsen in religiöse Innenerfahrung und dem Auftrag der Verkündigung der Frohen Botschaft.“
Und er zitiert den Jesuiten Karl Rahner: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein . . . oder er wird nicht mehr sein.“