Fröndenberg. Seit mehr als einem Jahr ist die Bahnstrecke zwischen Unna und Fröndenberg auf einer Länge von elf Kilometern gesperrt. Ein Ortstermin
Es hat etwas von einer Schatzsuche an diesem späten Vormittag am Bahnhof Fröndenberg-Frömern. Ja, wo laufen sie denn, diese Frechdachse, die dafür gesorgt haben, dass die Strecke der Regionalbahn 54 zwischen Unna und Fröndenberg auf einer Länge von elf Kilometern gesperrt ist? Seit das Unheil vor über einem Jahr Fahrt aufnahm, geht nichts mehr. Nach Bahnangaben kann die Strecke noch mehrere Jahre nicht betrieben werden.
Ortstermin mit Adrian Mork: Der Vorsitzende des Kreisverbandes Unna des Naturschutzbundes NABU pflegt am Telefon bei Nachfragen zu seinem Hausnamen zu sagen: „wie Mork vom Ork“. Die Älteren unter uns erinnern sich an die TV-Serie über den Außerirdischen Mork vom Planeten Ork. Wie Außerirdische sind auch die Dachse unter dem Bahndamm plötzlich ins Rampenlicht gerückt.
Adrian Mork geht einen Teil der Bahnstrecke ohne Bahnverkehr ab. Zwischen den Schwellen sprießen Brombeer-, Eschen- oder Rosenpflanzen aus der Erde. Sichtbare Zeichen des Verkehrs-Stillstands. Schnell nimmt der 56-Jährige die Hoffnung auf eine Dachs-Sichtung: „Dachse sind nachtaktiv“, sagt er und schmunzelt nicht das einzige Mal an diesem Tag wegen der bundesweit einmaligen Sperrung einer Bahnstrecke – weil Dachse laut Deutscher Bahn den Damm unterhöhlt und damit instabil gemacht hätten. „Die Geschichte hat etwas von Loriot“, sagt Mork.
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Loriot erfand einst die Steinlaus. Der scheue Nager fand Eintrag in Nachschlagewerke und brachte in der Gedankenwelt des Humoristen ganze Hochhäuser und Kirchen zum Einsturz. Da sind die Dachse, die unter Tage ein weitverzweigtes Tunnelsystem angelegt haben sollen, fast schon harmlos.
Zurück zur Realität am Bahnhof Frömern: Es hat etwas von Großer-Junge-Romantik, auf der Suche nach Dachsbauen entlang der Bahnschienen zu gehen. Wohlgemerkt: auf einer gesperrten Strecke. Die Bahn hat jüngst davon gesprochen, dass man auf der Linie der RB 54 (Unna nach Menden) zwischen Unna und Fröndenberg 140 Eingänge gezählt habe.
Drei Dachsbauen zwischen Haselbäumen
Zunächst werden die „Schatzsucher“ allerdings nicht fündig. Gut, dass ein Anwohner in Rufweite ist und auf die richtige Spur führt: „Gehen Sie in die andere Richtung.“ Tatsächlich: In einem kleinen Waldstück, 100 Meter vom verhinderten Bahn-Haltepunkt Frömern entfernt, sind zwischen Haselbäumen drei Dachsbaue angelegt. Zehn Meter von den Schienen entfernt. NABU-Mann Adrian Mork geht in die Hocke: „Eindeutig ein Dachsbau“, sagt er und schaut in ein frisch geputztes Loch: „Ein Jäger würde sagen: Der Bau sieht befahren aus.“ Sprich: Er ist in Benutzung. Was für die Schienen wahrlich nicht gilt.
Jägerlatein? Die Streckensperrung aufgrund angeblich reger unterirdischer Bautätigkeit von Dachsen hält Mork für von der Bahn „vorgeschoben und wenig stichhaltig“. Das Unternehmen, „das an allen Ecken und Enden zu kämpfen hat“, solle sich bei seinen Problemen mit der Unterhaltung von Strecken nicht „hinter dem Dachs verstecken“, findet er. Solche Tiere hätten schon immer an Bahnkörpern gelebt. Dass sie an der Strecke im Kreis Unna über Jahrzehnte Baue angelegt haben und Züge problemlos darüber hinweggefahren sind, sei keine bahnbrechende Neuigkeit. Morks Fazit: „Wenn nur das Vorhandensein von Dachsbauen zur Sperrung einer Bahnstrecke führt, müssten vermutlich etliche weitere Strecken in Deutschland gesperrt werden.“
Vom vorgeschobenen Dachs will man bei der Bahn nichts wissen: „Der Vorwurf ist Unsinn“, sagt Tobias Hauschild, Netzleiter im Großraum Hagen. In dem Streckenabschnitt – eben elf Kilometer – seien überall in der Erde Löcher zu finden. Hauschild: „Wir sind keine Dachs-Experten und für jede Hilfe dankbar. Aber wir haben den Schaden bei einer der jährlichen Inspektionen festgestellt. Wir freuen uns, wenn der NABU uns ein Gutachten einreicht, in dem steht, dass das Gebiet frei von Dachsen ist. Aber das gibt es nicht.“ Nach Bahnangaben liegt der verursachte Schaden im zweistelligen Millionenbereich.
„Ein Drama für die Einwohner der betroffenen Orte“
Naturschützer Mork bezweifelt, dass alle „Löcher“ auf das Konto von Dachsen gehen: „Ich frage mich, ob untersucht worden ist, welche Bauen überhaupt besiedelt sind.“ Das sei leicht festzustellen: „Mit einer Wildkamera. Dachse verlassen zwecks Nahrungssuche täglich ihre Baue.“ Und überhaupt: „Sollte an einer Stelle ein Schaden aufgetreten sein, sollte dieser genau dort behoben werden und nicht die gesamte Strecke gesperrt werden.“ Letzteres widerspreche einer von der Politik verkündeten Verkehrswende. Und sie könne nicht im Sinne der Fahrgäste sein, die über Jahre zwischen Unna und Fröndenberg (mit den Stationen Frömern und Ardey) nun einen Schienenersatzverkehr nutzen müssten. „Ein Drama für die Einwohner der betroffenen Orte“, sagt Mork.
Was ist generell über Dachse bekannt? „Sie sind standorttreu“, sagt Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Und ergänzt: „Es gibt Dachsbauen, die bereits seit 200 Jahren besiedelt sind.“ Das Geschehen auf der Bahnstrecke in Westfalen sei „mit Blick auf die Zahl der gefundenen unterirdischen Röhren und der finanziellen Konsequenzen sehr außergewöhnlich“. Mehr noch: „Mir ist kein ähnlicher Fall bekannt.“
Nach seiner Überzeugung können sich „kaum mehr als ein gutes Dutzend Dachse“ unter dem Bahndamm aufhalten: „Dachse leben in ihren Erdbauten (sogenannte Dachsburgen) nicht in Kolonien (mehrere Familien nebeneinander) zusammen – wie beispielsweise Kaninchen.“ Zu einer Dachsfamilie zählten neben den zwei Elterntieren der jährliche Nachwuchs und die Jungen des Vorjahres-Wurfs. Pro Wurf kämen fünf bis sechs Jungtiere zur Welt.
Üblicherweise bestehe ein Dachsbau „aus maximal 10 bis 15 Röhren mit einzelnen Kammern (quasi Wohnräumen)“ und könne durchaus einen Durchmesser von bis zu 50 Metern aufweisen. Er schwärmt: „Dachsbauen sind wahre architektonische Meisterwerke unter Tage.“
Andreas Kinser kann sich nicht vorstellen, dass die auf der Bahnstrecke entdeckten 140 Eingänge zu einem einzigen, riesigen und zusammenhängenden Dachsbau gehören: „Ich gehe davon aus, dass viele Röhren versuchsweise angelegt wurden – auch von Jungdachsen, die spielerisch ihre Umgebung erkunden.“ Ein anderer Grund könnte ein reichhaltiges Nahrungsangebot in der Umgebung des Bahndamms sein – zum Beispiel Wildbienen-Bruten, Mäusenester oder Wurzeln. Was allerdings auch denkbar sei: „Dachse sind sehr reinlich und legen in ihrem Streifgebiet Latrinen an. Vielleicht sind aber auch viele Röhren Gänge von Wildkaninchen oder Füchsen. Denn Dachse leben bisweilen in einer Art Wohngemeinschaft mit anderen Höhlen bewohnenden Wildtieren.“
Digitale Fahrgastinformation läuft weiter
Zurück zum Bahnhof Frömern: Der für viel Geld renovierte, aber nicht genutzte Haltepunkt ist zu einem Ort der Skurrilitäten geworden: Ein Trassierband, das den Zugang zum Bahnsteig verhindern soll, hängt so tief, dass es kein Hindernis mehr darstellt; der Streugutbehälter ist prall gefüllt, obwohl mangels Reiseverkehr kein Salz benötigt wird; am zwangsläufig menschenleeren Bahnsteig läuft die digitale „Fahrgastinformation“: „Wegen des GDL-Streiks ist der Bahnverkehr bis zum Tagesende massiv behindert“, heißt es an der Stelle, an dem kein Zug fährt. Loriot hätte seinen Spaß gehabt.