Hagen. Unterkünfte für Geflüchtete werden vielerorts zum Zankapfel. Spitzenpolitiker aus der Region diskutieren, was den Kommunen helfen könnte.
Zuletzt in Schmallenberg-Nordenau, mitten im Sauerland. Oder in Schwelm im Ennepe-Ruhr-Kreis: Die Bürgermeister sehen sich bei Bürgerversammlungen heftiger Kritik ausgesetzt, weil neue, kommunale Unterbringungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen geschaffen werden müssen. Der Druck auf die Kommunen wächst, weil immer mehr untergebracht werden müssen.
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Und die Hilferufe in Richtung Bundes- und Europaebene werden immer größer. Eckhard Ruthemeyer, der Bürgermeister von Soest und Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW, hat jüngst der WESTFALENPOST gesagt: „Wir bräuchten eine Begrenzung der Zahl der Menschen, die aufgenommen werden – für Europa, für Deutschland, für jede Stadt und Gemeinde.“ Was muss also getan werden, um den Kommunen zu helfen?
Wir haben Abgeordnete aus der Region befragt, die im Bundestag und Europaparlament sitzen – also in den Volksvertretungen, in denen tatsächlich über die Fragen von Asyl und Zuwanderung beraten und entschieden wird. Und Südwestfalen nimmt dabei durchaus eine wichtige Rolle ein. Denn aus unserer Region stammt eine Reihe von Abgeordneten, die einflussreiche Positionen haben: etwa Friedrich Merz, der CDU-Partei- und Fraktionschef aus Arnsberg. Aber auch Dirk Wiese, stellvertretender Fraktionschef der Kanzler-Partei SPD. Johannes Vogel, für Olpe und den Märkischen Kreis im Bundestag, ist stellvertretender Parteichef der FDP und deren parlamentarischer Geschäftsführer. Oder aber Birgit Sippel aus Arnsberg, die für die SPD im Europa-Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) sitzt, der auch für Migration und Asyl zuständig ist.
Machen Sie sich also selbst ein Bild, ob deren Antworten überzeugen. Die ebenfalls im Bundestag vertretenen Fraktionen von Linkspartei und AfD stellen keine Abgeordneten aus Südwestfalen.
Friedrich Merz (CDU)/Bundestag: „Die faktischen Aufnahmekapazitäten Deutschlands stoßen an ihre Grenzen“
Für uns als Union ist klar: Unser christliches Menschenbild gebietet die Unterstützung für Menschen in Not. Verfolgten zu helfen und ihnen Schutz zu gewähren, ist für uns eine Frage der humanitären Verantwortung, der Mitmenschlichkeit und der Nächstenliebe. Auch die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist weiterhin sehr groß.
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Und zugleich müssen wir angesichts der hohen Anzahl zu uns kommender Menschen nüchtern feststellen: Die faktischen Aufnahmekapazitäten Deutschlands stoßen an ihre Grenzen. Vielerorts sind sie auch bereits überschritten. Das zeigen die Hilferufe aus den Bundesländern und Kommunen, auch in Südwestfalen. Es mangelt an Platz in Schulen und Kindergärten, an kurzfristigen Unterbringungsmöglichkeiten und langfristigem Wohnraum.
Hinzu kommt: Gelingende Integration braucht Zeit und starke Strukturen vor Ort. Die deutsche Sprache muss erlernt, der Weg in den Arbeitsmarkt gefunden und unsere Werte müssen angenommen werden. Die bestehende Infrastruktur Deutschlands ist für rund 80 Millionen Menschen ausgelegt, nicht für 84 Millionen. Was jetzt zu tun wäre, um unsere Kommunen zu entlasten, haben wir bereits vor Monaten in unserem Positionspapier „Für Humanität und Einwanderung in der Asyl- und Flüchtlingspolitik“ aufgeschrieben: Verpflichtende Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, eine solidarische Verteilung anerkannter Flüchtlinge in der Europäischen Union und die klare Trennung von Asyl- und Erwerbsmigration. Georgien sowie die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien müssen endlich als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, da sind vor allem die Grünen mal wieder dagegen. Und abgelehnte Asylbewerber sollten konsequent in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. Von der Bundesregierung hören wir viele Worte, sehen aber keine Taten. Bundesinnenministerin Faeser muss ihrer Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes gerecht werden. Friedrich Merz, CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzender im Bund aus Arnsberg
Dirk Wiese (SPD)/Bundestag: „Grenzschließungen innerhalb Europas können nicht die Antwort sein“
Es gibt nicht die eine Lösung, um den gordischen Knoten steigender Flüchtlingszahlen von heute auf morgen zu lösen. Erforderlich ist letztendlich ein Maßnahmenbündel. Grenzschließungen innerhalb Europas können dabei aber nicht die Antwort sein. Vielmehr braucht es abgestimmte europäische Vereinbarungen, wie sie aktuell auf der europäischen Ebene von der Bundesregierung mit vorangebracht werden.
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Die Bundesregierung schließt zudem richtigerweise Migrationsabkommen, um Rückführungen zu erleichtern und legale Migrationswege zu ermöglichen. Zeitnah werden auch Georgien und Moldau als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Aktuelle Zahlen bei den Rückführungen bestätigen zudem den Kurs der Bundesregierung. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Zahl der Rückführungen um mehr als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr. Hier müssen wir weiter dranbleiben. Straftäter und Gefährder haben ihr Bleiberecht verwirkt, und viele Bürgerinnen und Bürger haben wenig Verständnis, wenn gerade diese nicht abgeschoben werden können.
Klar ist aber auch: Wenn manche Zuwanderung immer schlecht reden, bleiben Arbeitskräfte unserem Land fern. Das gefährdet den Wohlstand unseres Landes. 65 Prozent der erwerbstätigen Geflüchteten, die seit sechs Jahren in Deutschland sind, arbeiten in Vollzeit, während es im Durchschnitt aller Erwerbstätigen in Deutschland 62 Prozent sind. Das bestätigen auch meine Begegnungen im Sauerland: Der übergroße Teil der Geflüchteten strengt sich an, lernt Deutsch, findet Arbeit und schafft für sich und seine Familie die Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft in unserem Land. Das ist auch notwendig: Unser Arbeitsmarkt ist auf Zuwanderung angewiesen, um den Wohlstand zu erhalten. In der Liste der beliebtesten Länder für ausländische Fachkräfte kommt Deutschland leider nur auf Platz 49 von 53. Dirk Wiese, stellvertretender SPD-Fraktionschef im Bundestag aus Brilon
Birgit Sippel (SPD)/Europarlament: „Eine Politik der Abschottung wird nicht helfen“
Ich freue mich, dass die meisten Kommunen nach wie vor ihren Teil der Verantwortung für die Aufnahme geflüchteter Menschen übernehmen wollen. Zugleich gibt es aber gerade jetzt viele weitere Herausforderungen, die sich in Schlagworten wie Klimawandel und Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Stärkung von Industrie und Handwerk im Wandel spiegeln. Deshalb müssen einige Fragen geklärt werden.
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Wie viel Geld gibt etwa der Bund für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten an die Länder? Landet dieses Geld tatsächlich vollumfänglich in den Kommunen? Warum wurden nicht schon längst Kapazitäten für zentrale Unterbringungen realisiert? Warum erfolgt seitens der Länder keine effektive Entlastung der Kommunen im Bereich der Altschulden? Als Europäisches Parlament müssen wir weiter daran arbeiten, dass etwa Mittel aus dem Fond für Migration und Integration ausgebaut und möglichst auch direkt an Kommunen ausgezahlt werden können.
An den EU-Außengrenzen kommen Menschen an, weil sie vor Krieg, Verfolgung, Folter fliehen – aber auch Menschen, die bei uns arbeiten wollen. Für diese letzte Gruppe brauchen wir – auch angesichts des Bedarfes an Arbeitskräften – verständlichere und weiter harmonisierte Regeln zur Einreise, damit sie nicht den falschen Weg über das Asylsystem nehmen.
Mit Blick auf Asylbewerberinnen und Asylbewerber ist klar: Es gibt eine Verpflichtung, geflüchteten Menschen Schutz zu gewähren. Eine Politik der Abschottung, ein Aussetzen des Asylrechtes wird nicht helfen. Auch dauerhafte Kontrollen an den Binnengrenzen haben negative Auswirkungen; sie schwächen den europäischen Binnen-Arbeitsmarkt und sind bei der Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, das Kontrollen in Staaten mit Außengrenzen und klare Regeln für die Zuständigkeit von Asylverfahren vorsieht, nicht notwendig. Rat und Parlament streben eine Beschlussfassung dazu noch vor der Europawahl am 9. Juni 2024 an – für die Umsetzung sieht etwa die Position des EU-Ministerrates eine zweijährige Übergangsfrist vor.
Polen und Ungarn allerdings wollen einen Beschluss zur Asylreform nicht umsetzen. Die EU muss hier klare Kante zeigen. Wer sich antidemokratisch verhält und einen Mehrheitsbeschluss nicht umsetzt, muss mit klaren Reaktionen rechnen - persönlich würde ich Gelder dann nicht nur einfrieren, sondern konkret an die Mitgliedstaaten verteilen, die die Beschlüsse umsetzen. Birgit Sippel, SPD-Abgeordnete des Europa-Parlaments aus Arnsberg
Peter Liese (CDU)/Europaparlament: „Ich bin für die Einführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“
Ich wünsche mir, dass wir offene Grenzen in der EU haben. Aber ich nehme die Bedenken vor Ort in unseren Kommunen sehr ernst. Ich werde von Bürgermeistern und Lokalpolitikern angesprochen, dass sich die Flüchtlings-Situation weiter zuspitzt. Deshalb muss man auch als überzeugter Europäer nun abwägen und über seinen Schatten springen.
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Ich trete für den Kompromiss ein, den die Innenminister auf europäischer Ebene getroffen haben, über eine stärkere Kontrolle und Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen, in denen grob geklärt wird, wer eine Chance auf ein Bleiberecht hat. Die Aufnahmezentren an den Außengrenzen sind eine historische Chance, sie bringen massiv Entlastung. Nur: Zum einen gibt es diesen Kompromiss noch nicht; Linke, Grüne, ein Teil der Liberalen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament blockieren ihn – was zeigt, dass sie nicht genügend Kontakt zur ihren Lokalpolitikern haben. Zum anderen wird der Aufbau der Aufnahmezentren Monate dauern. Da ich aber weiß, dass wir schnelle Lösungen brauchen, bin ich für die Einführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, etwa an der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze. Das lässt sich innerhalb von acht Wochen umsetzen.
Daneben muss auch die finanzielle Unterstützung der Länder und Kommunen durch die Bundesregierung besser werden. Zudem braucht es eine bessere Fluchtursachenbekämpfung.
Eine Diskussion über eine andere Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Länder ist nicht zielführend. An dem Versuch haben wir uns acht Jahre lang verhoben. Im Übrigen hat etwa Polen sehr viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen, pro Kopf viermal so viele wie Deutschland. Wenn man das anrechnet, muss Polen keinen mehr aus Afrika oder anderen Erdteilen aufnehmen.
Die meisten Menschen, die zu uns kommen, werden nicht politisch oder religiös verfolgt in ihren Herkunftsländern. Sie sind auch nicht die Ärmsten der Armen. Peter Liese, CDU-Abgeordneter des Europa-Parlaments aus Meschede
Johannes Vogel (FDP/Bundestag): „Wer keinen Asylgrund geltend machen kann, der sollte auch gar nicht erst über das Asylsystem nach Europa einreisen“
Selbstverständlich spüren wir alle den Druck, der auf den Kommunen derzeit lastet. Deshalb brauchen wir kluge Lösungen, die langanhaltend wirken – keine Schnellschüsse. Beispielsweise die Binnen-Grenzen in Europa zu schließen verspielt Errungenschaften der europäischen Integration. Umso besser müssen dann aber die Außengrenzen funktionieren. Denn richtig ist: Deutschland und Europa brauchen mehr reguläre und weniger irreguläre Einwanderung.
Es braucht eine faire Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU. Dazu braucht es ein neues Asylsystem, mit dem Menschen geholfen wird, die tatsächlich in ihren Heimatländern verfolgt werden. Dazu gehört dann aber auch: Wer keinen Asylgrund geltend machen kann, der sollte auch gar nicht erst über das Asylsystem nach Europa einreisen. Wir werben schon länger dafür, dass ein möglicher Einreisegrund nach Europa auch schon außerhalb der EU-Grenze geprüft wird – selbstverständlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Zusätzlich müssen wir bei Rückführungen jetzt ganz konkret schneller werden, zum Beispiel indem wir Moldau und Georgien als sichere Herkunftsstaaten einstufen. Johannes Vogel, FDP-Abgeordneter für Olpe und den Märkischen Kreis sowie Vize-Parteivorsitzender
Laura Kraft (Grüne)/Bundestag: „Das individuelle Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar“
Die Lage der Kommunen ist mir, auch durch die Gespräche mit unseren Bürgermeistern im Kreis, bekannt. Mich erreichen auch viele Nachrichten zu dem Thema. Wir dürfen die Kommunen nicht im Stich lassen. Bund und Länder sollten diese Debatte nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen, sondern sie unterstützen. Deshalb begrüße ich auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, um finanzielle Fragen in dieser Sache zu erörtern. Kopfpauschalen als Abrechnungsmethode für Geflüchtete können hierbei sinnvoll sein. Wir Grüne setzen uns dafür ein, dass die Kommunen finanziell angemessen aufgestellt werden, und natürlich dürfen unter anderem die Migrationsberatung und andere soziale Angebote nicht gekürzt werden. Wir brauchen diese Strukturen. Dafür setze ich mich auch in den Haushaltsverhandlungen ein.
Das individuelle Recht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention sind ein hohes Gut und nicht verhandelbar. Wir müssen legale Migrationswege stärken und irreguläre Migration reduzieren. Bei den Herausforderungen vor Ort müssen wir Bürgerinnen und Bürger durch politischen Dialog stärker miteinbeziehen und so auch Sorgen und Ängste ausräumen. Laura Kraft, Bundestagsabgeordnete der Grünen für Siegen-Wittgenstein
>> INFO: Flüchtlingszahlen steigen
- Die Zahl der Flüchtlinge steigt weiter. Im ersten Halbjahr stellten 162.271 Menschen in Deutschland einen Asylantrag. Das entspricht 64 Prozent der Zahl des gesamten Jahres 2022.
- Hinzu kommen seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 etwa eine Million Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind.