Medebach-Titmaringhausen. Nach der Wärmepumpe wird bei der Heizreform nun auf Fernwärme gesetzt. Für wen und was sich solche Systeme eignen, zeigt ein Besuch im Sauerland.
Für Besucher riecht’s nach Abfällen, für Simon Frese jedoch ist der Geruch, den die Energiewende hier hinterlässt, Alltag. Er bemerkt ihn gar nicht mehr.
Frese, 37, ist neben der Biogasanlage seiner Familie aufgewachsen. Früher betrieben sie hier einen Bauernhof, heute ist der ehemalige Stall das Herz der Anlage, die zwei Dörfer am Rande des Sauerlands mit grüner Nahwärme versorgt. Die Heizdebatte, die können sie hier recht entspannt verfolgen.
Noch vor ein paar Wochen diskutierte Deutschland über die federführend von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgelegte Überarbeitung des Gebäude-Energie-Gesetzes (GEG) und die Wärmepumpe. Nach Reformen am Reformentwurf – der infolge der Intervention des Bundesverfassungsgerichts nun erst nach der parlamentarischen Sommerpause beschlossen werden kann – sollen die Kommunen bis spätestens 2028 eine verpflichtende Wärmeplanung vorlegen.
Bei den Freses hat die Zukunft bereits vor fast 40 Jahren begonnen. Hier, in Titmaringhausen, einem 174-Einwohner-Dorf in der Nähe zur hessischen Landesgrenze, knapp 20 Autominuten von Willingen entfernt. Wie es dazu gekommen ist, wie alles funktioniert, inwieweit die Anlage ein Vorbild ist, das sind die Fragen, die ins Hochsauerland führen, aber auch zu Professor Gerald Lange.
50 Tonnen Speiseabfälle pro Tag
Kurz bevor Simon Frese in Titmaringhausen auf dem Hof seines Betriebs erscheint, fährt mal wieder ein Lkw vor. 50 Tonnen Material – Speisereste und Fettabscheider – verarbeiten sie hier. Pro Tag. Mit den Abfällen aus Gastronomie, Hotels, Krankenhäusern oder Pflegeheimen füttern sie ihre Biogasanlage. Die Abfälle werden geschreddert, zu einer „Suppe“ (Simon Frese) verarbeitet. Die angerührte Masse gärt, es entsteht Biogas. Dieses wird verbrannt, treibt Motoren an, die Strom und Wärme produzieren.
Den Strom – installierte Gesamt-Leistung: 2300 KW – speisen sie ins öffentliche Netz ein. Die Wärme ist ein Nebenprodukt der Stromerzeugung. Sie nutzen sie für ihr Wärmenetz, in dem 20.000 Liter Heizungswasser im Umlauf sind bei einer Temperatur von 80 Grad. An den angeschlossenen Gebäuden gibt es eine Übergabestation mit Wärmetauscher, damit die Haushalte ihr jeweils eigenes geschlossenes System betreiben und die Temperatur (Heizung, Warmwasser) individuell regeln können.
Heute versorgen die Freses mit ihrer Anlage – die bei niedrigen Außentemperaturen von einer Hackschnitzelheizung unterstützt wird, um die Temperatur im Netz zu halten – laut eigenen Angaben fast alle Haushalte in Titmaringhausen sowie im zwei Kilometer entfernten Referinghausen (205 Einwohner). Durch ihr Wärmenetz würden jedes Jahr 500.000 Liter Heizöl eingespart. 160 Gebäude hätten sie binnen sechs Jahren Bauzeit angeschlossen, fast zehn Kilometer Gräben gezogen. Das alles in Eigenregie und auf 450 bis 550 Metern Höhe. Die Topographie war allerdings nur ein Hindernis. Ein anderes: der Mensch.
Halb so teuer wie eine Ölheizung
„Bei einem Nahwärmenetz muss man nahezu jedes Haus anschließen, sonst ist es auf Dauer nicht wirtschaftlich. Man kann nicht um jedes zweite oder dritte Haus einen Bogen mit der Leitung machen. Dafür sind die Baukosten und anschließenden Wärmeverluste zu hoch. Alle Haushalte gleichzeitig zu einem Ja zu bewegen, das ist die große Kunst“, erklärt Simon Frese und sagt über den Aufbau ihres Netzes: „Es war anfangs viel Überzeugungsarbeit erforderlich.“
Simon Freses Vater Christoph (74), der früher einen Hof mit 120 Milchkühen bewirtschaftete, betrieb die Biogasanlage anfangs mit Gülle. Damals, sagt sein Sohn, „galt Biogas vielen als Spinnerei“.
Die Zeiten haben sich geändert. Heute ist erneuerbare Energie gefragter denn je, vor allem, wenn sie preiswerter ist als fossile Optionen. „Unsere Kunden sparen sich grob die Hälfte der üblichen Heizkosten“, sagt Simon Frese. Außerdem fielen Anschaffung und Unterhalt einer Heizung weg. Und: Man habe mehr Platz im Haus, weil Heizkessel und Lagertanks überflüssig seien.
Ist das also die Zukunft fürs ganze Land? Nun ja.
Nicht überall sinnvoll
Anders als in (Groß-)Städten sind in ländlichen Regionen oft größere Distanzen zu überbrücken. Das macht den Aufbau eines Leitungsnetzes und die Versorgung durch eine zentrale Wärmequelle teurer. Je größer das Netz, desto höher der Wärmeverlust. Auch in Neubaugebieten setze man in der Regel nicht mehr auf Fern- oder Nahwärme, sondern eher auf strombetriebene Wärmepumpen, sagt Professor Gerald Lange. „Die modernen Häuser sind so gut gedämmt, dass die nicht mehr so viel Wärme benötigen“, so der Fachmann für Gebäudetechnik.
In Innenstädten jedoch, wo nicht viel Platz zur Verfügung stehe, sowie dort, wo es Biogasanlagen wie die der Freses gebe und die Wege relativ kurz seien, da machten Wärmenetze Sinn. Der Experte der Fachhochschule Südwestfalen in Hagen nennt beispielsweise Orte, an denen Industrieanlagen oder Rechenzentren zur Abwärmenutzung vorhanden sind, als Einsatzgebiete für Wärmenetze. Hierbei müsse man allerdings die „Sprunghaftigkeit der Industrie“ berücksichtigen. „Wenn die Industrie abwandert, fehlt die Wärmequelle“, sagt Lange und erklärt: „Vom Fernwärmeversorger besteht hierbei eine gewisse Abhängigkeit. Wenn man einmal angeschlossen ist, hat man keine Anbieterfreiheit wie bei Strom und Gas.“
Ein weiterer Aspekt, der bei Wärmenetzen zu bedenken ist: die Art der Energiegewinnung.
Fernwärme oft „Mogelpackung“
Wie Simon Frese sagt auch Professor Lange, dass Biogasanlagen – die entweder wie bei den Freses mit Abfällen oder aber mit nachwachsenden Rohstoffen (NawaRo) betrieben werden – die Energieversorgung nicht im großen Stile unterstützen können. Dazu müssten enorme Mengen von Biomasse fürs Heizen eingesetzt werden. NawaRo wie etwa Mais kann man nachhaltiger, landwirtschaftliche Flächen besser für Nahrungsmittelanbau nutzen.
Professor Lange sieht Biomasse daher nur als „Brückentechnologie“ oder für „Nischen“ und weist zudem darauf hin, dass Wärmenetze heutzutage oft eine „Mogelpackung“ in Bezug auf eine CO2-Reduzierung seien. 80 Prozent der Fernwärme in Deutschland werde nicht mit erneuerbaren Energieträgern erzeugt, sondern mit Gas- und Kohlekraftwerken oder Müllverbrennungsanlagen. „Die Herausforderung ist, die Fernwärmeproduktion umzustellen auf Erneuerbare Energien“, sagt der 57-Jährige.
Wie groß die Aufgabe ist, zeigt Folgendes: In NRW bezogen laut des Statistischen Landesamts im vergangenen Jahr nur 13,4 Prozent der Haushalte ihre Heizenergie über Fernwärme; die Bundesregierung will die Anzahl der angeschlossenen Gebäude in Deutschland bis 2045 in etwa verdreifachen, mittelfristig pro Jahr mindestens 100.000 Gebäude neu an Wärmenetze anschließen.
Bürokratie bremst „gnadenlos“
Die Ausbaupläne und zeitlichen Zielvorgaben führen noch mal zu den Freses – und zur Bürokratie.
Sieben Jahre habe es gedauert, bis er ein weiteres Heizkraftwerk in Betrieb nehmen konnte, erzählt Simon Frese. „Überall heißt es: mehr und schneller grüne Energie. Aber die, die das umsetzen sollen, werden durch unsere Bürokratie gnadenlos ausgebremst. Wir müssen für alles Nachweise und Bescheinigungen ausfüllen. Seit dem vergangenen Jahr wird beispielsweise ein Nachhaltigkeitszertifikat für Biogasanlagen gefordert, die wie unsere mit Speiseresten betrieben werden. Was aber ist nachhaltiger, als Abfall zu verwerten“, sagt er und schimpft: „Der Gesetzgeber richtet nur Chaos an. Die Dokumentationswut ist das Problem. Die Bürokratie nimmt einem die Zeit zum Arbeiten.“
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