Hagen/Paderborn. Er wollte CDU-Chef Friedrich Merz öffentlich zu einer Entschuldigung in Sachen „kleine Paschas“ bringen. Erfolglos. Was Verani Kartum antreibt.

Er ist derjenige, dem Friedrich Merz die Entschuldigung verweigerte: Verani Kartum, Kind türkischer Gastarbeiter, seit Jahrzehnten in Deutschland, Ratsherr in Paderborn, pensionierter Beamter. Verheiratet mit einer Deutschen, wie er erzählt.

Am Samstag forderte der 54-Jährige auf der Regionalkonferenz der CDU am Flughafen Paderborn-Lippstadt von Friedrich Merz, dass sich der CDU-Vorsitzende für seine Äußerung aus dem Januar über Schüler mit Migrationshintergrund entschuldige, diese „kleinen Paschas“.

Im Interview äußert sich Kartum über den Vorfall, erklärt, warum die Aussage des „gefährlichen“ CDU-Parteichefs wie „ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf“ aller Migranten sei, und warnt: Viele Zuwanderer hätten sich seit der Merz-Äußerung vom deutschen Staat losgesagt.

Erfuhr auch viel Zuspruch auf der Regionalkonferenz seiner Partie am Samstag am Flughafen Paderborn-Lippstadt: CDU-Chef Friedrich Merz
Erfuhr auch viel Zuspruch auf der Regionalkonferenz seiner Partie am Samstag am Flughafen Paderborn-Lippstadt: CDU-Chef Friedrich Merz © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Herr Kartum, eine Entschuldigung von Friedrich Merz haben Sie nicht bekommen. Wie enttäuscht sind Sie?

Ich war schon verärgert darüber, dass Herr Merz eine Entschuldigung abgelehnt. Aber mich hat auch die Reaktion des Publikums geärgert.

Es gab Pfiffe und Buhrufe, nachdem Sie sich zu Wort gemeldet hatten.

Genau. Vorher war die Stimmung auf der Regionalkonferenz ganz gut, auch die Wortmeldungen waren gut. Es ging darum, dass die Gesellschaft zusammenkommt, es ging um Toleranz und Vielfalt. Ich bin fast erschrocken, dass es so harmonisch zuging, fast langweilig für CDU-Verhältnisse. Ich dachte schon, ich wäre bei den Grünen oder der Linken gelandet (lacht). Dann kamen die Pfiffe und Buhrufe. Das war erschreckend. Man sieht daran, wie gefährlich Friedrich Merz ist. Einige Teilnehmer haben zwar noch versucht, die Masse zu beruhigen. Aber man sieht, wie Merz eine Masse umdreht und wie anfällig die CDU für Populismus und rechtes Gedankengut ist.

Merz erklärte, dass diese Wortschöpfung auf eine Unterhaltung mit zwei Lehrerinnen aus dem Hochsauerlandkreis zurückgehe, die ihm berichtet hätten, dass sie mit manchen Schülern mit Migrationshintergrund und deren Eltern überfordert seien. Er habe die Lehrer schützen wollen. Was genau stört Sie an der Aussage?

Die Aussage von Merz ist für Migranten eine Zeitenwende. Viele Migranten fühlen sich diskriminiert, von der Gesellschaft nicht anerkannt. Wir können machen, was wir wollen, wir sind keine Deutschen. Ich habe beispielsweise mit vielen Aramäern gesprochen, die sind Christen, viele wählen die CDU. Sogar die sagen, eine solche Aussage geht nicht. Merz‘ Bemerkung war wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf. Wir gehören einfach nicht dazu. Selbst wenn wir seit 60, 70 Jahren hier sind. Auch unsere Kinder – ich habe drei, alle hier geboren – sind keine Deutschen. Zudem: Meine 16-jährige Tochter hatte vor einiger Zeit Probleme mit zwei Lehrern. Seit der Aussage von Merz frage ich mich, wie gehe ich mit so was um? Ich muss vorsichtig sein, hinterher heißt es noch: Wieder so ein Paschakind-Vater… Die Aussage von Merz hat Wirkung bis in die Kommunen, bis in Familien.

Woran machen Sie das fest?

Ich bin 1. Vorsitzender des Sportvereins SC Aleviten Paderborn, wir bemühen uns um Integration. Die Aussage von Merz war Gesprächsthema Nummer 1 bei uns. Seit der Aussage haben sich insbesondere auch türkische Migranten von diesem Staat verabschiedet. Ich merke das in den Moscheen und in den Kulturvereinen. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Ich höre immer: Du siehst doch, wir können machen, was wir wollen, wir gehören nicht dazu. Das ist die Folge des Satzes von Herrn Merz. Hinzu kommt, dass inzwischen ungehemmt diskriminiert wird. Ich weiß, dass nicht jede Äußerung, die heutzutage als rassistisch bezeichnet wird, tatsächlich rassistisch ist; wir dürfen diese Bezeichnung nicht immer verwenden. Aber dennoch haben sich diskriminierende Äußerungen in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt. Die Leute haben keine Hemmungen mehr. So war das auch am Samstag nach meiner Wortmeldung. Ich wurde böse angeguckt, die Leute wollten nicht mehr mit mir sprechen. Aber ich kenne das schon, in Paderborn bin ich sowieso das schwarze Schaf. Trotzdem gehe ich zum Schützenfest, beim Bierchen kann man mit den CDU-Leuten geschmeidiger sprechen (lacht).

In der TV-Sendung, in der im Januar die Pascha-Äußerung fiel, ging es anlässlich der Silvesterrandale in Städten wie Berlin oder Hagen um Integration und explizit um arabischstämmige Migranten. Warum fühlen sich nun alle Migranten von der Pascha-Aussage angesprochen, wie Sie sagen?

Früher waren es „Die Türken“ oder „Die Ausländer“, jetzt sind es „Die Araber“. Das ist eine Verallgemeinerung, mit der alle Migranten gemeint sind. Ich bin nicht arabisch, fühle mich trotzdem angegriffen. Ich erwarte nach wie vor eine Entschuldigung von Herrn Merz. Wir – Zuwanderer und „Bio-Deutsche“ – haben Deutschland gemeinsam aufgebaut.

Volle Halle: Mehr 1000 Personen hatten sich für die Regionalkonferenz der CDU am Flughafen Paderborn-Lippstadt angemeldet.
Volle Halle: Mehr 1000 Personen hatten sich für die Regionalkonferenz der CDU am Flughafen Paderborn-Lippstadt angemeldet. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Merz – und andere – sagen, wenn es Probleme gibt, müssen die auch klar benannt werden. Sie stören sich in dem Fall an der Wortwahl. Wie kann man solche Sachverhalte angemessen thematisieren?

Es gibt Probleme, keine Frage, aber wenn man so pauschalisiert wie Herr Merz, sorgt man dafür, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Er muss solche Dinge differenzierter ansprechen – und er muss sich entschuldigen. Darauf warten alle Migranten.

Sie sind fraktionsloser Ratsherr in Paderborn, Sie sind kein CDU-Mitglied, warum waren Sie eigentlich am Samstag bei der CDU-Regionalkonferenz?

Ich bin extra wegen Herrn Merz hin, um ihn nach einer Entschuldigung zu fragen. Mir ging es darum zu sehen, ob er überhaupt mal darüber nachgedacht hat, was seine Aussage ausgelöst hat.

Und?

Scheint nicht so zu sein.

Wie geht es jetzt weiter, wie löst man das Integrationsproblem?

Die Mehrheitsgesellschaft muss uns reinlassen, uns auf Augenhöhe begegnen, uns teilhaben lassen an Politik, Verwaltung, Vereinen. Wir möchten in die Mitte der Gesellschaft. Ich bin seit meiner Kindheit in Deutschland, seit 1976. Der Wunsch vieler Türken hier war immer, dass wir als Deutsche anerkannt werden. Es ist eine bittere Erkenntnis, aber wir sind einem Phantom hinterhergelaufen. Wir merken, dass wir es nie schaffen werden. Die Aussage von Merz hat das zementiert.

Sie persönlich wirken allerdings recht gelassen, Sie machen auch Scherze.

Ich kann damit umgehen, ich habe mich an die Situation gewöhnt. Andere aber nicht. Wir sehen die nächsten Probleme ja bei den Flüchtlingen, die derzeit zu uns kommen. Die Ukrainer dürfen bleiben, sie dürfen arbeiten, sie können Sprachkurse belegen. Alle anderen sind Flüchtlinge zweiter Klasse. Bis deren Status geklärt ist und sie irgendwas machen dürfen, sind sie gefrustet. Ich helfe einer afghanischen Familie, die waren Staatsanwälte in ihrer Heimat. Die leben hier auf 18 Quadratmetern in der Unterkunft. Eine Toilette für zehn Familien. In solchen Verhältnissen entsteht Frust gegenüber dem Staat. Bei Kindern, die so aufwachsen, ist die Gefahr sehr groß, dass sie kriminell werden.

Und wie geht es zwischen Ihnen und Friedrich Merz weiter?

Ich werde ihm schreiben, dass man noch mal drüber spricht, die Sichtweisen mal austauscht. Ich werde weiter versuchen, ihm zu erklären, dass er die Äußerung zurücknehmen muss.

>> INFO: Um dieses Merz-Zitat geht es

  • „Und dann wollen sie diese Kinder zur Ordnung rufen und die Folge ist, dass die Väter in den Schulen erscheinen und sich das verbitten. Insbesondere, wenn es sich um Lehrerinnen handelt, dass sie ihre Söhne, die kleinen Paschas, da mal etwas zurechtweisen.“
  • Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender, am 10. Januar in der Talkshow von Markus Lanz, im Zusammenhang mit seiner Aussage, dass Lehrerinnen und Lehrer schon an Grundschulen täglich verbaler Gewalt ausgesetzt seien.