Ennepetal. Barwurst, Brautwurst oder Bratwurst: Nur eines der Probleme in einer Brennpunktschule in Ennepetal. Wie der Unterricht läuft? Ein Besuch vor Ort.
Erster Versuch: „Barwurst“. Knapp daneben. Zweiter Versuch. „Brautwurst“. Stimmt auch nicht. Die vier Kinder aus der Türkei und der Ukraine kapitulieren. Frau Nordmeier muss bei der Aussprache des gesuchten Wortes helfen. „Bratwurst“, sagt sie, lacht kurz und wundert sich: „Pfannkuchen war leichter als Bratwurst?“
Ein Tag im April, Grundschule Wassermaus, dritte Stunde, Deutsch-Unterricht, genauer: DaZ, Deutsch als Zweitsprache. Harter Gegner für Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
Seit den Vorfällen an Silvester vor vier Monaten wird im Land wieder verstärkt über die Themen Migration, Integration und Bildung diskutiert. Über „kleine Paschas“ (CDU-Chef Friedrich Merz). Oder die Einführung einer „Migrationsquote“, wie sie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, fordert, um den Migrationsanteil an einzelnen Schulen zu begrenzen und Sprachdefiziten entgegenzuwirken.
Die Grundschule Wassermaus in Ennepetal – unterteilt auf drei Standorte – ist an ihrer Niederlassung Friedenstal das, was man als „Brennpunkt“ bezeichnet: 76,5 Prozent der 98 Schüler hier haben einen Migrationshintergrund. Die Wurzeln der Kinder beziehungsweise ihrer Familien liegen in Syrien, Nigeria, Pakistan, Rumänien, in der Türkei, im Libanon oder im Irak. In der Wassermaus trifft sich die Welt. Mitunter prallen Welten aufeinander.
Was das für die Durchführung des Unterrichts bedeutet, zeigt ein Besuch vor Ort. Vorweg: Mit Unterricht, wie ihn viele aus der eigenen Schulzeit kennen, dürfte das wenig gemein haben.
Vier Betreuerinnen für 14 Kinder
Der Schultag beginnt mit Förderunterricht Deutsch. Spielerisch sollen einige Erstklässer vor dem regulären Deutsch-Unterricht Grundlagen der Verständigung üben. Im Klassenraum A008 – in dem an der Wand die Buchstaben des ABC und die Zahlen bis 20 hängen – kommt ein Fernseher in Leinwandgröße zum Einsatz. Ein Musikvideo läuft. „Kopf und Schulter, Knie und Fuß“, singen die im Kreis aufgestellten Kinder, zeigen dabei auf die jeweilige Körperstelle. „Augen, Ohren, Nase, Mund“... Die Musik spielt mit der Zeit immer schneller. Selinda Sakinc, Lehramtsstudentin und im Rahmen eines Corona-Aufholprogramms als Hilfskraft im Praxiseinsatz, steigt irgendwann lieber aus. Kein Problem, drei weitere Betreuerinnen bleiben dabei.
Vier Lehrkräfte für 14 Kinder. Wenn’s immer so wäre, „wäre es super“, sagt Standortleiterin Monika Verfürth. In der Regel kommen aber nicht zwei Lehrerinnen, eine Sozialpädagogin und eine Lehramtsstudentin auf so wenige Schüler. Regulär sitzen hier 29 Kinder in der 1. Klasse vor einer Lehrkraft, in der 2. Klasse sind es 27.
Feueralarm-Übung? Bei traumatisierten Kinder nur mit Vorwarnung
Die Klassengröße ist allerdings nur eine Herausforderung. Als größtes Problem der Kinder benennt Monika Verfürth (59) – neben Aufmerksamkeit und Konzentration – die Sprache. Viele Schüler sprechen zu Hause wohl kein oder wenig Deutsch. Also fangen sie in der Schule morgens oft wieder mit dem an, was sie am Vortag gelehrt haben, erzählt Verfürth.
Dann sind da die familiären und sozialen Verhältnisse. Bildungsferne Schichten, heißt es etwa. Nicht wenige Kinder haben wohl auch Traumatisches erlebt, familiär und/oder fluchtbedingt. Feueralarmübungen würden daher teils angekündigt, weil sonst einige Schüler aufgrund von Erfahrungen in ihren kriegsgeplagten Herkunftsländern durch die Sirene in Panik gerieten, erzählt Schulleiterin Nicole Vilgis. Ein Kind sei derart traumatisiert gewesen, dass die Oma wochenlang mit in den Unterricht kommen musste.
Auch ist die Rede von Vor- oder Verdachtsfällen häuslicher oder sexualisierter Gewalt, von Verhaltensauffälligkeiten. „Insbesondere Verhaltensauffälligkeiten haben stark zugenommen“, sagt Nicole Vilgis (50). Gibt’s da eine Dauerschleife zum Jugendamt? Vilgis – als Beamtin an Mäßigungsgebot und Neutralitätspflicht gebunden – formuliert diplomatisch: „Wir stehen in einem engen Austausch und Kontakt zum Jugendamt und anderen Kooperationspartnern.“ Monika Verführt ergänzt: „Sie können sich schlecht auf Lehrinhalte konzentrieren, wenn Kinder mit diesen Baustellen beschäftigt sind. Viele Kinder sind belastet.“
Der Standort Friedenstal ist wie ein Schmelztiegel, hier kommt alles zusammen. Nationalitäten, Kulturen, Sprachen, dazu Flüchtlingskrise, Lehrermangel und weitere allgemeine schulische wie gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen. Monika Verfürth sagt, dass sie zunehmend Sozialarbeit, Erziehungshilfe, Familien- und Ernährungsberatung leisten. „Wir sind aber Lehrer“, sagt sie, „wir haben vorrangig einen Bildungsauftrag.“
Extra-Förderung in Vierergruppen
Um diesem so gerecht wie möglich zu werden, erhalten sie Unterstützung durch Schulsozialarbeiter, Sonder- und Sozialpädagogen, Inklusionsassistenten und weitere Fachkräfte im so genannten Multiprofessionellen Team. Sie bauen auf Lese-Mentoren, pensionierte Lehrer etwa, die mit Kindern das Lesen üben. Nicole Vilgis hat der Universität Wuppertal eine Kooperation vorgeschlagen, um Lehramtsstudenten bei der Sprachförderung an ihrer Grundschule einzusetzen. Zum Teil verzichten die anderen beiden Standorte der Wassermaus zugunsten der Niederlassung Friedenstal auch auf Ressourcen.
Nur so ist es möglich, dass etwa Jasmin Grafe, eine Sozialpädagogin, während der zweiten Stunde mit vier Erstklässlern im Lernstudio im Erdgeschoss Spracherziehung macht, die Aussprache von M und O übt, oder Sandra Nordmeier, Fachkraft im Multiprofessionellen Team, mit den vier erst im Februar zugezogenen Kindern aus der Türkei und der Ukraine die Aussprache des schönen Wortes Bratwurst übt. Die Neun- bis Zehnjährigen haben dabei ihren Spaß. Die Episode zeigt aber auch, auf welchem Sprachniveau hier mitunter gearbeitet werden muss.
Ohne Differenzierung geht es nicht
Ein Stockwerk tiefer kann Kirsten Hammes derweil einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Zweite Stunde, regulärer Deutsch-Unterricht, 25 Kinder, einige sind zu laut. Ansonsten ist die 56-Jährige zufrieden mit ihrer 1d. „Die Kinder arbeiten toll mit“, sagt sie, „es läuft gut.“
Es läuft aber auch nur, weil sie zusätzliches Personal und ausreichend Räumlichkeiten zur Verfügung haben. „Wir müssen hier sehr stark differenzieren, wir müssen die Kinder da abholen, wo sie stehen. Nur dann funktioniert es“, sagt Hammes und betont: „Viele denken noch an das alte Schulsystem: Vorne steht ein Lehrer, alle lernen dasselbe. Die Zeiten sind vorbei.“