Hagen. Die zwei Fälle aus Attendorn und Hagen lassen aufhorchen. Die Zahl der Inobhutnahmen sinkt allgemein. Wie das der Kinderschutzbund erklärt.

Erneut musste am Dienstag die Polizei anrücken. Anwohner hatten sich über die Fernseh-Journalisten beschwert, die mit ihren Kameras in die Straße gekommen waren, um Bilder zu machen: Bilder von dem Haus in Hagen, in dem ein Fünfjähriger in seinem Zimmer eingesperrt worden war – von der Mutter und deren Ehemann. In der Not kletterte der Junge aus dem Fenster und kauerte sich im dritten Stock auf die Regenrinne. Nachbarn riefen die Polizei, das Jugendamt nahm das Kind in Obhut.

Ein Fall, der an das eingesperrte Kind in Attendorn im Kreis Olpe erinnert. Dort war eine heute Neunjährige für den offenbar größten Teil ihres Lebens von ihrer Mutter und den Großeltern in deren Haus von der Außenwelt isoliert worden. Erst im vergangenen September konnte sie nach verschiedenen Hinweisen befreit werden.

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Der aktuelle Fall aus Hagen wirft noch viele Fragen auf. Fragen dazu, ob das Kind häufiger und länger eingesperrt wurde. Aber auch ganz allgemeine Fragen.

Sind Eltern heutzutage schneller überfordert mit ihren Kindern?

Die Zahlen sprechen dagegen. Seit 2017, das besagen die aktuellsten Daten des Statistischen Landesamtes, sinkt die Zahl der Inobhutnahmen (Schutzmaßnahmen, die vom Jugendamt im Sinne Minderjähriger durchgeführt werden). Waren es damals noch 15.951 verringerte sich der Wert in NRW auf zuletzt 12.193 Fälle. Sowohl die Überforderung der Eltern/eines Elternteils als auch die Vernachlässigung waren als Grund für Inobhutnahmen zuletzt rückläufig. Stark steigend allerdings: Die Zahl der Inobhutnahmen wegen unbegleiteter Einreisen aus dem Ausland.

Renate Blum-Maurice, Vorstandsmitglied des Kinderschutzbundes in NRW
Renate Blum-Maurice, Vorstandsmitglied des Kinderschutzbundes in NRW © WP | Privat

„Viele heutige Eltern haben – bevor sie ihr eigenes Kind bekommen - noch nie ein Kind auf dem Arm gehabt“, sagt Renate Blum-Maurice, Diplom-Psychologin, Sozialwissenschaftlerin, Familien- und Kindertherapeutin sowie Vorstandsmitglied des Kinderschutzbundes in NRW. So entstünde „viel Unkenntnis und Unsicherheit und manchmal dann eben auch Überforderung. Die allermeisten Eltern wollen ihren Kindern nicht schaden, aber manche verlieren sie wegen eigener Überforderung oder eigener Schwierigkeiten aus dem Blick.“

Im Kreis Soest gab es 2021 die meisten Inobhutnahmen (316) in Südwestfalen. Es folgen: Hagen (206), der Märkische Kreis (160), der Kreis Siegen-Wittgenstein (157), der Ennepe-Ruhr-Kreis (148), der Hochsauerlandkreis (50) und der Kreis Olpe (16).

Wie kommt es zu den Zahlen?

Ansichtssache. Das Landesfamilienministerium argumentiert ganz allgemein, dass die „Aufdeckung gravierender Fälle von akuter Kindeswohlgefährdung und die damit einhergehende öffentliche Berichterstattung“ sowie „die Schaffung von vielfältigen Maßnahmen zum verbesserten Schutz von Kindern durch das Land und die Kommunen“ zu einer höheren Sensibilisierung der Gesellschaft beigetragen hätten.

Mit dem im 2022 verabschiedeten Kinderschutzgesetz soll eine weitere Verbesserung erreicht werden. In diesem Jahr werden etwa 86 Millionen Euro in den Kinderschutz investiert.

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Renate Blum-Maurice interpretiert die rückläufigen Zahlen aber etwas anders. „Die Jugendämter haben sich ganz sicher in den Corona-Jahren bemüht dranzubleiben, aber dadurch, dass der alltägliche Kontakt in Kindergärten, Schulen und Orten der Kinder- und Jugendarbeit nicht mehr gegeben war, ist auch manches aus dem Blick geraten. Das dürfte Effekte bis heute haben“, sagt Blum-Maurice. „Außerdem haben die Jugendämter die Aufgabe, die Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sicherzustellen, das stellt in den letzten Jahren einen nicht unerheblichen Anteil der Inobhutnahmen dar und ist auch für Schwankungen verantwortlich.“

Welche Rolle spielt das Jugendamt im Hagener Fall?

Die Mutter, die 2021 erst nach Hagen zog, befand sich 2022 noch in Betreuung des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Das Angebot auf weitere Unterstützung durch das Jugendamt lehnte sie aber ab, nachdem die Behörde eine „zufriedenstellende Situation“ angetroffen hatte, wie die Stadt mitteilte.

Renate Blum-Maurice macht klar, dass sie den Hagener Fall aus der Distanz nicht einschätzen könne, sieht aber ganz generell Verbesserungsbedarf. „Ich finde es schon sinnvoll, dass nach der Beendigung von Hilfen verpflichtend nachgeschaut wird, wie sich die Dinge entwickeln. Das ist noch nicht gesetzlich festgeschrieben, da sind die Verantwortlichen auf die Mithilfe der Eltern angewiesen. Das bedeutet: Es kann sein, dass eine Akte einfach geschlossen wird – und manchmal eben zu früh.“

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Die Jugendämter im Land nimmt sie in Schutz. „Jugendämter sind letztlich zuständig für die Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls, dabei passieren auch Fehleinschätzungen. Wir dürfen nicht erwarten, dass die das alles immer regeln. Der Schutz der Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nicht bei einem Amt abladen können.“ Wichtiger sei es, vorher schon zu schauen, „was vielleicht eine sehr junge Mutter braucht, die womöglich eine nicht ganz leichte Biographie hat. Wie können wir sie unterstützen, bevor sich ganz schwierige Situationen entstehen, wie können wir Angebote schaffen, die helfen, ohne dass man das Etikett erhält: Du hast ein Problem?“

Die Mutter aus dem Hagener Fall ist 22 Jahre alt. In ihrer Wohnung fand die Polizei eine kleine Drogenplantage.

Die angespannte Lage in Jugendämtern kennt Blum-Maurice nur zu gut. „Viele Jugendämter sind nicht hinreichend ausgestattet und haben außerdem Mühe, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe mit oft zu vielen Fällen, bei der man am Ende aber oft die Schelte abbekommt.“

Warum kam die Mutter nicht in Haft?

Untersuchungshaft dient dazu, einen späteren Prozess zu sichern. Da in diesem Fall keine Fluchtgefahr gegeben und außerdem die Schwere der Vorwürfe noch nicht klar sei, sei die Frau auf freiem Fuß, wie die Polizei erklärt.

Die Staatsanwaltschaft Hagen hat ein Ermittlungsverfahren gegen die Erziehungsberechtigten eingeleitet. „Es geht um eine Verletzung der Fürsorgepflicht“, erklärt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, „darüber hinaus müssen wir schauen, in welchem gesundheitlichen Zustand sich das Kind befindet.“ Im Anschluss wiederum können man entscheiden, ob auch der Vorwurf der Misshandlung von Schutzbefohlenen in Frage käme.