Hagen. Die Rechte von Kindern sind weiter nicht explizit im Grundrecht verankert. Warum das geändert werden sollte, erklärt eine Kinderschutz-Fachfrau.

Wertschätzung gegenüber Kindern ist Manuela Pischkale-Arnold (61) wichtig. Die sechsfache Mutter ist Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Hagen und weiß, dass es diese Wertschätzung längst nicht überall gibt. Offenbar auch nicht in der Politik, die es zuletzt ablehnte, Kinderrechte explizit im Grundrecht zu verankern. Ein Gespräch über das Warum und die möglichen Folgen.

Antworten Sie bitte spontan: Welche Wertschätzung bringt unsere Gesellschaft Kindern entgegen?

Manuela Pischkale-Arnold: Mein Eindruck ist: Die Rechte der Kinder zählen hierzulande kaum etwas. Das wurde in der Corona-Pandemie noch einmal mehr als deutlich und war außerordentlich erschreckend mitanzusehen.

Was meinen Sie genau?

Nur ein Beispiel: In den Schulen saßen Kinder in Jacken und Wolldecken gehüllt bei Minustemperaturen an offenen Fenstern, weil der Politik nichts anderes eingefallen ist als Maskentragen und Lüften, um die Kinder zu schützen. Und wenn das alles nichts brachte, gab es oft schlecht vorbereiteten Distanzunterricht. Warum sind da keine anderen Ideen entwickelt worden? Warum sind nicht Leerstände in Kirchengemeinden genutzt worden, um Unterricht zu entzerren. Welchem Arbeitnehmer hätten wir das zugemutet? Keinem! Und: Im Landtag sind Plexiglasscheiben und Luftfilteranlagen installiert worden.

Enttäuscht und fassungslos

Im Juni waren die Verhandlungen in Bundestag und Bundesrat über die eigentlich geplante Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz gescheitert. Was haben Sie gedacht, als Sie das hörten?

Ich war und bin enttäuscht und fassungslos. Es ist nahezu peinlich, dass Kindern nicht mehr Stimme gegeben wurde und sie offensichtlich keine hohe Priorität haben. Allerdings: Der Gesetzesentwurf, über den keine Einigkeit erzielt werden konnte, war ohnehin eine Kompromissvariante, die die Forderungen der Kinderrechtsgruppen nicht ausreichend berücksichtigte.

Was war gefordert worden?

Kinderrechte tauchen im Grundgesetz bislang nur im Zusammenhang mit ihren Eltern auf. Einen eigenen Platz in der Hausordnung der Gesellschaft haben sie nicht. Es geht uns um den Vorrang von Schutz-, Förderungs- und Beteiligungsrechten der Kinder. Kinder können die Rechte, die sie bislang haben, nicht einfordern oder verteidigen. Wenn sie einen rechtlichen Status im Grundgesetz hätten, wäre der Staat noch mehr in der Pflicht, auf die Einhaltung zu achten.

Das würde was konkret bedeuten?

Das wäre eine gesellschaftliche Umwälzung. Kinder würden entsprechend ihres Entwicklungsstandes in Entscheidungen einbezogen werden. Das kann Konzepte in Schulen und Kindergärten betreffen, aber zum Beispiel auch den Bau von sicheren Straßen, die Planung von Wohnvierteln. Oder die Arbeit von Familiengerichten.

Unterstützung für Eltern

Ein Beispiel, bitte.

Wir hatten hier mal mit einem Mädchen zu tun, dessen Vater hatte ein Gericht begleiteten Umgang gestattet. Das heißt: Er darf sein Kind im Umfeld und unter Aufsicht des Kinderschutzbundes sehen. Wir haben das Mädchen gefragt, ob es seinen Vater sehen will. Es sagte, dass es das zuletzt sehr oft gefragt worden sei und dass ihre Antwort immer die gleiche war: nein. Gerichte treffen oft gute Entscheidungen, aber manchmal eben über die Köpfe der Kinder hinweg.

Wissen nicht Eltern oft am besten, was gut ist für ihre Kinder?

Das ist einer der Kritikpunkte: Dass dem Staat neue Eingriffsmöglichkeiten gegeben werden und Elternrechte beschnitten werden. Ich sehe das anders. Ich empfinde die Aufnahme­ ins Grundgesetz als Unterstützung für Eltern. Je mehr bessere Bedingungen für Kinder geschaffen werden, desto besser ist es für die Eltern und eine starke Gesellschaft.

Kann es nicht auch problematisch sein, Kindern Entscheidungen zu überlassen? Eine Heerschar von Eltern ziehen doch gerade Kinder heran, die zu allem gehört und manchmal sogar alles bestimmen dürfen. Und man hat nicht immer den Eindruck, dass das allen Beteiligten hilft.

Es geht erst einmal um eine Haltungsfrage­: Signalisiere ich dem Kind ausreichend gut, dass ich es und seine Bedürfnisse sehe, höre, wahrnehme? Es geht darum, sie nicht von klein auf zu dirigieren, sondern sie ernst zu nehmen und ihnen­ Gestaltungsspielraum zu geben­. Das bedeutet ja nicht, dass es keine Regeln gibt, die es nicht auch zu befolgen gäbe. Es gibt zum Beispiel Kindergärten, die haben ein Kinder-Parlament.

Kinder wissen, was gut für sie ist

Ein Kinder-Parlament?

Sozusagen ein Gremium aus aus- gesuchten­ Kindern, das für die Gruppe an Entscheidungen des Kindergartens mitwirken und eben auch gehört werden muss. Wir haben­ hier zum Beispiel den Suppenkasper­, mit dem Kindergruppen gemeinsam kochen können­. Als ich die Erzieherin­ einer Gruppe fragte, ob sie auch weiterhin kommen werde, sagte sie, dass sie erst das Kinder-Parlament fragen­ müsse. Das votierte dafür – und schlug zudem vor, dass die Eltern­ für den Suppenkasper spenden­ sollten. Das soll nur zeigen: Kinder wissen oft sehr wohl, was gut für sie ist. Man muss ihnen manchmal einfach nur die Entscheidung zutrauen. Aber wir meinen ja oft, über Kinder bestimmen zu müssen.

Hätten Kinderrechte im Grundgesetz ihre Situation in der Corona-Pandemie verbessert?

Davon gehe ich aus, ja.

Wie geht es in der Sache jetzt weiter?

Das Thema gärt schon seit vielen Jahren und eigentlich dachte ich, in diesem Jahr hätten wir es endlich geschafft. Es hätte gut gepasst im Hinblick auf die „Fridays for Future“-Bewegung und wäre eine konsequente Lehre aus der Pandemie gewesen. Jede Partei gibt vor, dass ihr das Thema besonders wichtig ist. Aber zu einer Veränderung konnten sie sich in dieser Legislaturperiode dann doch nicht durchringen. Aber das war es noch nicht. Wir machen weiter, damit Kinder mehr Gehör verschafft bekommen.

>>INFO: Welche Rechte Kinder schon haben

  • Das Aktionsbündnis Kinderrechte, dem neben dem Kinderschutzbund auch Unicef, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Deutsche Liga für das Kind angehören, weist darauf hin, dass Kinderrechte nach der UN-Kinderrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland seien.
  • Als völkerrechtlicher Vertrag steht sie vom Rang eher allerdings unter dem Grundgesetz. Dieses berücksichtige „die Kinderrechte bisher aber nur unzureichend“.
  • Sie werden dort im Rahmen von Artikel 6 erwähnt, „jedoch nur als Erziehungsobjekt der Eltern und nicht als eigenständige Träger von Rechten“. Besonders in der „Gerichts- und Verwaltungspraxis werden Kindesinteressen und Beteiligungsrechte oft übersehen“.