Hagen. Fäkalien im Zimmer, Flucht aufs Dach: Die Stadt Hagen bringt ein eingesperrtes Kind (5) zurück zu seiner Familie. Ein schwerer Fehler.

Der fünfjährige Junge, der am Sonntag in seinem Zimmer eingesperrt worden war und durch ein Fenster auf das Dach eines dreigeschossigen Mehrfamilienhauses in Hagen geklettert war, war bereits am Montag wieder zurück bei seiner Mutter (22) und deren Ehemann. Dort verbrachte er auch die Nacht. Am Dienstagmorgen wurde das Kind erneut durch den Allgemeinen Sozialen Dienst in Obhut genommen. Die Stadt spricht von einer Fehleinschätzung.

Wörtlich erklärt Sprecherin Clara Treude: „Diesem Schritt vorausgegangen – so erste verwaltungsinterne Untersuchungen – war eine Fehleinschätzung der Gesamtsituation seitens der die Familie bereits seit längerer Zeit betreuenden Fachkraft des Jugendamtes sowie ihres unmittelbaren Vorgesetzten.“

Stadt Hagen bedauert Vorgehen

Weiter heißt es: „Das Kind wurde am Dienstagmorgen unverzüglich erneut in Obhut genommen und in die Betreuung einer Pflegefamilie übergeben. Dies geschah – wie bereits die erste Inobhutnahme am Sonntag – im Einvernehmen mit der Mutter.“

„Die Stadt Hagen bedauert die beschriebenen Ereignisse rund um das betroffene Kind sehr“, so Clara Treude. „Verwaltungsintern ist eine entsprechende Aufarbeitung und dienstrechtliche Überprüfung unmittelbar in Gang gesetzt worden.“

Vater spricht von Personalmangel

Immerhin gibt es bei all dem Durcheinander eine positive Botschaft: „Gesundheitlich sind bis dato keine Auffälligkeiten bei dem Kind zurückgemeldet worden“, sagt Clara Treude. Zur weiteren Abklärung werde das Kind bei der Kinderschutzambulanz vorgestellt. Der Ehemann der Mutter, der nicht der leibliche Vater des Kindes ist, aber mit der Frau, dem Jungen und zwei Katzen in der Wohnung in Eilpe lebt, erklärte gegenüber unserer Zeitung: „Der Junge war für kurze Zeit bei uns zurück. Dann aber ist er erneut abgeholt worden. Begründet hat man das uns gegenüber damit, dass es derzeit nicht ausreichend Sachbearbeiter beim Jugendamt gebe. Man könnte deshalb die Situation nicht genau einschätzen.“

Fernseh-Teams in der Straße

Letztlich, so erklärte der Mann weiter, sei die Maßnahme aber auch in seinem Sinne und in dem seiner Frau: „Wir hatten hier in der Straße einen riesigen Medienauflauf. Es geht uns darum, den Jungen zu schützen. Wir möchten, dass er von all dem möglichst wenig mitbekommt. Er soll ja keine bleibenden Schäden davon tragen.“

In einem Mehrfamilienhaus in Eilpe hat die Polizei Hagen ein Kind befreit. Der Junge war in seinem Zimmer eingesperrt.
In einem Mehrfamilienhaus in Eilpe hat die Polizei Hagen ein Kind befreit. Der Junge war in seinem Zimmer eingesperrt. © WP | Jens Stubbe

Unsere Zeitung hatte am Montagmorgen online exklusiv über den Vorfall berichtet. Am Dienstagmorgen waren mehrere Fernseh-Teams in der Straße in Eilpe vorgefahren. RTL hatte live am Mittag in einem Magazin berichtet. Auch Sat.1 und der Westdeutsche Rundfunk (WDR) waren vor Ort: „Denen habe ich Interviews gegeben“, so der Mann.

Ehemann gibt zu: Habe Kind eingesperrt

Darüber hinaus erklärte er gegenüber unserer Zeitung: „Ich möchte da noch etwas richtigstellen. Ich war es, der das Kind eingeschlossen hat.“ Diesen drastischen Schritt hatte er am Vortag damit begründet, dass das Paar die beiden Wohnungsschlüssel verlegt habe. Vermutlich hätten die Katzen damit gespielt. Man sei aufgrund der Schichtarbeit übermüdet gewesen und habe verhindern wollen, dass sich das Kind allein nach draußen begebe, ohne dass man es bemerke.

Aus diesem Fenster eines Hauses in Hagen ist ein Junge auf das Dach geklettert. Nachbarn hatten gesehen, wie er in der Regenrinne saß und die Polizei verständigt.
Aus diesem Fenster eines Hauses in Hagen ist ein Junge auf das Dach geklettert. Nachbarn hatten gesehen, wie er in der Regenrinne saß und die Polizei verständigt. © Alex Talash | Alex Talash

Der Junge allerdings hatte sich einen Weg aus dem zugesperrten Zimmer gesucht: Er war durch ein Fenster auf das Dach des Haus geklettert und hatte nach Auskunft von Nachbarn in der Dachrinne ausgeharrt. Die wiederum hatten die Polizei informiert. Als die Beamten eintrafen, befand sich das Kind wieder in dem spartanisch eingerichteten Zimmer. Darin stand ein Eimer mit Fäkalien, den es für seine Notdurft benutzt hatte. Die Polizei hatte den Allgemeinen Sozialen Dienst hinzugezogen, dieser wiederum das Kind zunächst in Obhut genommen.

Nachbarn beschweren sich über Auftreten von Journalisten

Zu einem Polizeieinsatz war es am Dienstagmorgen in der Straße erneut gekommen. Das bestätigte Polizeisprecher Tino Schäfer auf Anfrage der Redaktion. Hintergrund sei das offenbar massive Auftreten einiger Journalisten gewesen, durch das sich Anwohner belästigt fühlten.

Die Staatsanwaltschaft Hagen hat derweil ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Es richtet sich gegen die Erziehungsberechtigten, in diesem Fall also wohl gegen die 22-jährige Mutter des Kindes: „Es geht um eine Verletzung der Fürsorgepflicht“, erklärt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, „darüber hinaus müssen wir schauen, in welchem gesundheitlichen Zustand sich das Kind befindet.“ Im Anschluss wiederum können man entscheiden, ob auch der Vorwurf der Misshandlung von Schutzbefohlenen in Frage käme.

Bericht aus 2018: Personalprobleme beim Jugendamt

Die Redaktion hatte zuletzt im November 2018 über gravierende Personalprobleme beim Allgemeinen Sozialen Dienst der Stadt Hagen berichtet. Die damalige Leiterin hatte sich mit einer Art Hilferuf an den Sozialausschuss gewandt. „Die Realität ist, dass wir uns von einer Krise in die nächste bewegen. Personell, aber auch vom Arbeitsalltag her“, hatte Sabrina Dahl damals gesagt. Von einer hohen Fluktuation war die Rede. Die Stadt kündigte eine Neustrukturierung an, die im Anschluss durch die Beraterfirma „Consens“ begleitet wurde.

Im Februar 2021 hatte Dahls Nachfolgerin Susanne Lossau über den Veränderungsprozess gesagt: „Wir betrachten es sehr positiv. Die Optimierungen wirken. Wir befinden uns in keiner Krise mehr.“

Lob für engagierte Arbeit

So wiederum äußert sich auch Detlef Reinke (CDU), Vorsitzender des Jugendhilfausschusses der Stadt: „Unser Eindruck ist, dass Frau Lossau und ihr Team sehr engagierte Arbeit leisten. Die Leiterin ist in jeder unserer Sitzungen dabei. Ich stehe in einem engen Austausch. Die Handlungsempfehlungen des Landes haben wir in Hagen umgesetzt.“

Zwei Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst unbesetzt

In einem Bericht des ASD im November 2022 hatte man für das komplette Jahr 997 Fälle von Kindeswohlgefährdung für Hagen prognostiziert. 852 Fälle waren es 2021, 1042 Fälle 2020. In 466 Fällen (bis 6. November 2022) wiederum hatte der ASD keinen Unterstützungsbedarf gesehen. 36 Stellen umfasst der Plan, zwei davon sind unbesetzt. Um Personal zu binden, gebe es ein Einarbeitungskonzept, Schulungsangebote, Supervision und jährliche Mitarbeiterbefragungen.