Hagen. Mit Matratze und einem Eimer wird ein Kind in Hagen in seinem Zimmer eingeschlossen. Als es aufs Dach klettert, rufen Nachbarn die Polizei.

Etwas mehr als dreieinhalb Jahre ist dieser Post auf Facebook jetzt her: Auf dem Bild zu sehen sind Kinderbettchen, die so in einer Dachschräge verbaut sind, dass sie zu einem Gefängnis werden. Die Mutter eines damals Eineinhalbjährigen aus Hagen hat ihre Verachtung über dieses Foto im sozialen Netzwerk zum Ausdruck gebracht. Heute ist ihr Sohn fünf Jahre alt, die Mutter 22. Jetzt hat sie ihn selbst eingesperrt. Sein „Gefängnis“ ist ein Zimmer in der Wohnung an der Sunderlohstraße, in dem sich nur eine Matratze und ein Eimer für die Notdurft befinden.

Hintergrund scheint eine Tragödie zu sein, deren Ausmaß noch nicht bekannt ist. Eine Tragödie, über deren Dauer auch völlige Unklarheit herrscht und die am Sonntag ein Ende fand, als die Polizei Hagen eingriff. Nachbarn hatten den Notruf gewählt, als sie beobachtet hatten, wie das Kind durch ein Fenster auf das Dach des dreigeschossigen Mehrfamilienhauses geklettert war. Es harrte in der Dachrinne aus. Hinter all dem könnte ein Fall schwerer Verwahrlosung stecken. Der Mann der Kinds-Mutter bestreitet das.

Eimer mit Fäkalien im Zimmer

Den Polizisten bot sich vor Ort ein schreckliches Bild: Als die Mutter sie in die Wohnung ließ und ihnen das abgesperrte Kinderzimmer aufschloss, befanden sich darin lediglich eine Matratze sowie ein Eimer mit Fäkalien. Das Kind allerdings war zu diesem Zeitpunkt im Zimmer, nicht mehr auf dem Dach des Hauses. Es war offenbar selbst zurückgeklettert.

„Die Kollegen haben sofort das Jugendamt hinzugezogen“, berichtet Polizeisprecher Tim Sendler, „der Gesamtzustand der Wohnung hat sie darin bestärkt. Wie lang das Kind in dem Zimmer eingesperrt war, können wir nicht sagen.“

Ein verwahrlostes Kind ist auf das Dach eines Hauses in Hagen geklettert. Die Mutter hatte es in seinem Zimmer eingesperrt. Darin befand sich ein Eimer mit Fäkalien.
Ein verwahrlostes Kind ist auf das Dach eines Hauses in Hagen geklettert. Die Mutter hatte es in seinem Zimmer eingesperrt. Darin befand sich ein Eimer mit Fäkalien. © Alex Talash | Alex Talash

Wie die Polizei bestätigt, befand sich in den Räumen im Dachgeschoss des Mehrfamilienhauses, in dem insgesamt vier Parteien leben, eine kleine Drogenplantage. In der Wohnung lebten neben der Mutter wohl noch deren Mann, der aber nicht der Vater des kleinen Jungen ist. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes hat das Kind in Obhut genommen. Gegen die Mutter, 22 Jahre alt, wurde eine Strafanzeige geschrieben. Die Vorwürfe: Verletzung der Fürsorgepflicht und Freiheitsberaubung. Sie wurde nicht festgenommen. Die Stadt erklärte, dass Mutter und Kind Ende 2021 nach Hagen gezogen seien. „Bis Herbst 2022 hat die Kindesmutter eine vom vorher zuständigen Jugendamt veranlasste ambulante Hilfe in Anspruch genommen“, so Stadtsprecherin Clara Treude, „die wurde eingestellt, da sich zu diesem Zeitpunkt sowohl die Situation in der Familie als auch die Wohnsituation zufriedenstellend dargestellt haben.“ Die Stadt habe der Kindesmutter weitere Unterstützung angeboten, diese wurde aber nicht in Anspruch genommen.

Wie lange und wie oft das Kind eingesperrt gewesen sei, könne derzeit nicht beantwortet werden, so die Stadt Hagen weiter. „Dazu“, so Clara Treude, „werden weitere Gespräche geführt.“ Die Inobhutnahme bleibe zunächst weiter bestehen. Seitens des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) sei der Mutter erneut ein Hilfsangebot unterbreitet worden.

Allerdings hatten Nachbarn aus umliegenden Häusern berichtet, dass ihnen das Kind auch in der Vergangenheit immer wieder aufgefallen sei. Es habe sogar um etwas zu Essen gebettelt und gebeten, doch bei ihnen übernachten zu dürfen.

An der Sunderlohstraße ist ein verwahrlostes Kind aus einer Wohnung geholt worden.
An der Sunderlohstraße ist ein verwahrlostes Kind aus einer Wohnung geholt worden. © Alex Talash | Alex Talash

„Ich habe selbst drei Kinder“, sagt eine Mutter aus einem der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, die namentlich nicht genannt werden möchte, „wenn man so etwas mitbekommt – das ist einfach unvorstellbar. Was geht nur in solchen Menschen vor?“

Der Ehemann der Mutter, der mit der 22-Jährigen und dem Jungen in der Wohnung lebt, hat gegenüber unserer Zeitung reagiert: „Wir hatten beide Wohnungsschlüssel verlegt, vermutlich haben die Katzen damit gespielt. Wir arbeiten beide im Schichtdienst, waren übernächtigt. Weil wir nicht wollten, dass der Junge die Wohnung verlässt, haben wir ihn in seinem Kinderzimmer eingesperrt. Das war ein Fehler.“

Er wehrt sich gegen den Vorwurf einer Verwahrlosung. Ein Gefäß für die Notdurft befinde sich im Kinderzimmer, weil der Fünfjährige nicht „trocken“ sei. Das Zimmer sei normal eingerichtet. Das Fenster, durch das der Junge geklettert sei, sei normalerweise abgeschlossen. „Der Kleine hat kein Sättigungsgefühl wie andere Kinder. Deshalb bittet er in der Nachbarschaft um Nahrung.“ Bis vor kurzem habe man das Kind in eine Kita gebracht. Allerdings habe es Probleme mit der Einrichtung gegeben. Bei der Plantage handele es sich um sechs Cannabis-Pflanzen, die sich unter eine Plane befänden. Seine Frau habe davon nichts gewusst. „Das muss ich auf meine Kappe nehmen.“

Kinderbilder auf Facebook

Auf den Facebook-Seiten der Mutter (sie hat zwei Profile) drehen sich viele Posts um ihren Sohn. Im Sommer 2019 hat sie ein Bild online gestellt, wie sie ihren Sohn im Arm hält. Beide strahlen. „Ich liebe dich, mein kleiner Engel“, hat sie dazu geschrieben und den Post mit sechs roten Herzen versehen. Ein anderes Foto zeigt ihren Sohn, wie er selig schlummert. Ein rosafarbenes Herz ist in die Schwarz-Weiß-Aufnahme integriert. Ein weiteres wie der Junge mit einer Kamera selbst Fotos schießt. Auf einem letzten Foto auf einem anderen Profil ist der Junge auf dem Weihnachtsmarkt zu sehen – es ist im Januar 2022 gepostet worden. Danach folgen noch Bilder der Hochzeit aus 2022.

Auch im Hausflur hatte die Mutter Bilder aufgehängt. Dort hängt ein Bilderrahmen mit mehreren Fotos: Sie zeigen zwei Katzen – eine mit dunklem, eine mit hellem Fell. Ihre Namen sind unter den Bildern auf den Rahmen gedruckt. Und sie zeigen die Mutter an ihrem Hochzeitstag bei strahlendem Sonnenschein im weißen Kleid mit ihrem Mann vor dem Standesamt im Rathaus an der Volme. Ihr Sohn steht vor ihr in einem feinen Anzug. Er hält sich die Hand gegen die tief stehende Sonne vor das Gesicht.