Hagen. Die tödlichen Kirmes-Schüsse in Lüdenscheid werfen erneut die Frage auf: Wie können so viele Waffen unterwegs sein?

Mit Waffen handelt er seit fast 40 Jahren. Legal. Und so kann Wolfgang Stabe aus Bochum-Wattenscheid all die Auflagen und Beschränkungen aufzählen, die es schwer machen sollen, dass man überhaupt in Deutschland an Waffen kommt. Manches hält Stabe für völlig übertrieben, aber er weiß auch, dass er sich penibel daran halten muss.

Der Pyrotechniker und Waffenexperte Wolfgang Stabe meint, dass es gar nicht so einfach sei, an illegale Waffen heranzukommen: „Da muss man schon eine gewisse kriminelle Vorbildung haben in dem Bereich. Mit Drogen etwa. Dann findet man sicher auch jemanden, der auch eine scharfe Waffe besorgt.“
Der Pyrotechniker und Waffenexperte Wolfgang Stabe meint, dass es gar nicht so einfach sei, an illegale Waffen heranzukommen: „Da muss man schon eine gewisse kriminelle Vorbildung haben in dem Bereich. Mit Drogen etwa. Dann findet man sicher auch jemanden, der auch eine scharfe Waffe besorgt.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Aber hat er nicht doch einen Tipp für den Reporter, wie man illegal an eine scharfe, im Zweifel tödliche Waffe kommt? Wenn man all die Auflagen eben nicht erfüllen kann, wenn man die Verbote unterlaufen will? „Nein“, lacht der Man mit dem Schnauzbart, der stundenlang erzählen kann, laut auf. „Dazu wären wir beide zu blöd. Da muss man schon eine gewisse kriminelle Vorbildung haben in dem Bereich. Mit Drogen etwa. Dann findet man sicher auch jemanden, der auch eine scharfe Waffe besorgt.“

Wie können sich schon Jugendliche bewaffnen?

In der Gruppe der sechs jungen Männer, aus der heraus vor wenigen Wochen auf der Kirmes in Lüdenscheid geschossen wurde, war diese „Vorbildung“ offensichtlich vorhanden. Mit tödlichen Folgen. Ein völlig unbeteiligter Kirmesbesucher (40) starb, nachdem einer von ihnen mit einer scharfen Waffe Schüsse abgegeben hatte. Auch wenn der Schütze noch nicht feststeht und die Ermittler ein Geheimnis daraus machen, ob die Tatwaffe inzwischen bei den diversen Polizeiaktionen gefunden wurde, kann schon jetzt als gesichert gelten: Die laut Fahndung 16 bis 20 Jahre alten Männer haben die Waffen illegal besessen und vor allem genutzt.

Aber wie kann das sein, dass sich in Deutschland schon Jugendliche tödlich bewaffnen? Folgt man den Buchstaben des Gesetzes, dann kann das eben nicht sein. Schaut man nur auf das Verbreitungsgebiet unserer Zeitung mit fünf Landkreisen und einer Großstadt und mit weit mehr als einer Millionen Einwohnern, dann dürfen gerade einmal neun Privatleute in der Öffentlichkeit eine scharfe Waffe mit sich führen (siehe Grafik). Und das auch nur unter Auflagen. Sie haben einen so genannten „Großen Waffenschein“ von den Behörden zugebilligt bekommen, zum Eigenschutz, weil sie als gefährdet gelten.

34.000 Waffenbesitzkarten sind in der Region ausgegeben

Aber natürlich gibt es viel mehr Waffen, ganz legal. Im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung haben die zuständigen Polizeibehörden mehr als 34.000 Waffenbesitzkarten ausgegeben. Das hat eine Abfrage unserer Redaktion ergeben. So viele erlaubnispflichtige Waffen oder Waffenteile gibt es also auf jeden Fall. Doch auf jeder Waffenbesitzkarte können bis zu acht Waffen eingetragen werden, tatsächlich ist die Zahl also noch viel höher.

Beispiel Hochsauerlandkreis: Hier sind auf etwa 8300 Waffenbesitzkarten letztlich rund 33.0000 erlaubnispflichtige Waffen registriert. Nimmt man diesen Faktor auch für die weiteren vier Landkreis und die Stadt Hagen als Grundlage, käme man schon auf rund 135.000 Waffen. Viele Jäger gehören dazu, die die Waffen nur zur Jagdausübung nutzen dürfen. Oder Sport- und Traditionsschützen, die ihrem Hobby nachgehen. Aber auch Besitzer von so genannten Deko-Waffen, also vermeintlich unbrauchbar gemachter, einst scharfer Waffen gehören zu den Besitztümern der Waffenkarteninhaber.

Aber auch damit ist das noch nicht mal das Bild der legalen Waffen vollständig: Mehr als 18.000 Menschen haben in Hagen und den fünf weiteren Landkreisen einen kleinen Waffenschein beantragt. Wie viele Gasdruckpistolen, Schreckschusswaffen oder Leuchtsignalwaffen somit im öffentlichen Raum unterwegs sind, ist unbekannt.

Wie viele illegale Waffen unterwegs sind, bleibt große Unbekannte

Und noch größer sind die Fragezeichen bei den illegalen Waffen. Wie viele sind wohl im Umlauf? Und wie ist die Entwicklung der vergangenen Jahre? Die Abfrage bei fünf Polizeibehörden bleibt weitgehend ergebnislos. Zum einen, weil nachvollziehbarerweise im illegalen Raum schlecht Statistik geführt werden kann. Aber auch bei den Straftaten mit Einsatz von Waffen, die statistisch erfasst werden, wird nicht aufgeschlüsselt, ob diese denn illegal waren.

„Das Grundproblem ist, dass zu viele Waffen unterwegs sind.“ Und zwar illegale wie auch legale, sagt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli aus Hagen.
„Das Grundproblem ist, dass zu viele Waffen unterwegs sind.“ Und zwar illegale wie auch legale, sagt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli aus Hagen. © WP Michael Kleinrensing | Michael Kleinrensing

Für Dr. Gerhard Pauli steht trotzdem fest: „Das Grundproblem ist, dass zu viele Waffen unterwegs sind.“ Und zwar illegale wie auch legale. Er ist Oberstaatsanwalt in Hagen mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Strafverfolgung. Dass Jugendliche sich schon Waffen beschaffen können, überrascht ihn nicht. „Das Internet spielt heute die bedeutendste Rolle. Natürlich versteckt im Dark-Net, aber auch auf frei zugänglichen Seiten. Die Waffen lässt man sich dann diskret nach Hause schicken oder an eine Packstation schicken.“

Waffen bestellen wie auf normalen Verkaufsplattformen

Wie in den Tiefen des Netzes auch mit scharfen Waffen gehandelt wird, haben die Polizei und Staatsanwaltschaft zuletzt bei den so genannten Encrochat-Ermittlungen sehen können. Mit verschlüsselten Handys wurde professionell eine Art Whatsapp für Kriminelle aufgebaut, in dem wiederum auf Seiten verwiesen wurde, die wie eine Art Ebay für Kriminelle aufgebaut sind. Drogen, vor allem Ecstasy-Pillen und Kokain ,wurde so vertrieben, bis die Ermittler die Verschlüsselung knacken konnten. Aber auch Waffen wurden angeboten, mit Bewertungen für die Verkäufer und Kommentaren – ganz so, wie man es von legalen Verkaufsplattformen gewohnt ist.

„Die Vorstellung, dass man sich am Hauptbahnhof rumtreiben muss, um sich eine Waffe zu besorgen, ist veraltet“, sagt Oberstaatsanwalt Pauli, der sich keine Illusionen macht, dass trotz der Erfolge in den Encrochat-Verfahren sowohl Drogen wie Waffen weiterhin massig im Netz gehandelt werden. „Auch wenn die Initiatoren hier in Deutschland leben, die Provider sitzen irgendwo in der Welt, wo es schwer ist, an sie ranzukommen.

Oberstaatsanwalt ist für Regel-Verschärfung

Gerhard Pauli hat aber nicht nur diesen Handel mit illegalen Waffen im Visier. Er sieht durchaus auch Handlungsbedarf bei legalen Waffen. Aus früheren Kriegsgebieten, insbesondere aus Ex-Jugoslawien, und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks vor allem aus Magazinbeständen der dortigen Armeen, etwa der ehemaligen Tschechoslowakei, seien noch sehr viele Waffen im Umlauf, die offiziell zu erlaubten Dekorationswaffen umfunktioniert und funktionsunfähig gemacht worden seien, etwa mit einem eingeschweißten Bolzen, weiß der Strafverfolger. „Aber mit ein bisschen handwerklichem Geschick lässt sich das auch wieder rückgängig machen.“ Bei der Bande, die 2019 wegen einer Serie von brutalen Überfällen am Landgericht Hagen verurteilt worden war, war dies etwa Fall.

Auch bei Gasdruckpistolen oder Schreckschusswaffen ist Pauli sehr skeptisch. Allein, dass viele einer scharfen Waffe täuschend ähnlich sähen, könne zur Eskalation führen. „Warum wird nicht etwa in einer Signalfarbe hergestellt, so dass jeder gleich erkennen kann, dass es sich nicht um eine scharfe Waffe handelt?“

Waffenhändler: Gadruckpistolen als Ventil weiter nötig

Für Wolfgang Stabe, den Wattenscheider Waffenhändler, sind weitere Verschärfungen des Waffenrechts dagegen unverhältnismäßig. Auch er weiß natürlich, dass viele Waffen aus ehemaligen Kriegsgebieten illegal unterwegs sind. Dass das Internet Gefahren birgt und es sogar Möglichkeiten gibt, mit 3-D-Druckern selbst Waffenteile herzustellen. Aber das würden auch weitere Gesetze nicht verhindern: „Wir haben in Deutschland schon die härtesten Regeln. Gasdruckpistolen müssen etwa in Deutschland mit Sollbruchstellen so konzipiert werden, dass man sie gar nicht zu scharfen Waffen umbauen kann“, sagt Stabe. „Und einen Großen Waffenschein bekomme nicht einmal ich als Waffenhändler.“

Bei Gaspistolen und Schreckschusswaffen die Regeln für den Kleinen Waffenschein weiter zu verschärfen, werde sich ins Gegenteil verkehren: „Es braucht dieses Ventil für Bürger, die sich unsicher fühlen. Wenn man das nicht mehr hat, treibt man noch mehr in den illegalen Handel.“

2021: Bei 13.000 Straftaten im Kreis Siegen-Wittgenstein wurde 17 Mal geschossen

Auch in einer Großstadt wie Dortmund ist der „Große Waffenschein“ eine Seltenheit. Aktuell ist ein einziger erteilt. „Die Zahl bewegt sich in den letzten Jahren immer im niedrigen, einstelligem Bereich“, so ein Sprecher.

Schusswaffen können - siehe der Fall der Kirmes-Schüsse - sehr gefährlich sein. Allerdings ist ihr Einsatz auch nicht Alltag. Beispiel Kreis Siegen-Wittgenstein: Laut Kriminalstatistik wurden im Jahr 2021 bei rund 13.000 Straftaten 76 Mal Waffen mitgeführt, in 17 Fällen wurde auch geschossen