Hagen. Standard-Arzneien sind Mangelware. Wie eine Apotheke aus Hagen Fiebersaft, Zäpfchen und Schmerzmittel herstellt – und warum das so teuer ist.
Das Labor, in dem der heiße Stoff angerührt wird, liegt mitten in der Stadt. In einer Apotheke. Erdgeschoss, hintere Ecke, schmale Zugangstür. Weißes Pulver, weiße Wände, weiße Kittel. Dazu ein Explosionsschutzschrank, zwei Feuerlöscher, Masken, Luftabzug. Vorsicht: giftige Dämpfe. Außerdem hier: Kanister mit rotem Gefahrgutaufkleber. Drogenlabor, denkt man. Alter Witz, sagt Dr. Christian Fehske. Den hat er schon häufiger gehört. Weniger witzig ist, was er dann sagt. „Der Ernstfall“, erklärt der 43-Jährige, „ist eingetreten.“
An diesen Ernstfall hatte in Deutschland niemand geglaubt. Standard-Medikamente wie Fiebersaft oder Zäpfchen ausverkauft? Unvorstellbar. Seit Wochen aber ist Fiktion Realität. Heißt für viele Apotheker: zurück zu den Wurzeln, Arzneien selber produzieren. Wie in der Rathaus-Apotheke in Hagen.
Über 1000 Fiebersäfte hätten sie seit September hergestellt, derzeit seien es 80 pro Tag. „Wir sind die letzte Notfallebene“, sagt Inhaber Christian Fehske, um dann dorthin zu führen, wo sie versuchen, den Notfall zu lindern.
Hergestellt im eigenen Labor: Fiebersaft, Schmerzmittel – und Magenbitter
Fünf Mitarbeiterinnen arbeiten in dem engen Labor. Normalerweise mischen sie spezielle Salben oder Cremes, die etwa Hautärzte Patienten verschreiben. In den Anfängen der Pandemie, als es an Desinfektionsmittel fehlte, stellten sie das „in rauen Mengen“ (Christian Fehske) her. Die kindgerechte Portionierung von Arzneien gehörte zudem immer schon zu ihrem Job. Auch einen Verdauungsschnaps, den „Rathausbitter“, produzieren sie hier. Aber das nur am Rande.
Jedenfalls, das, was sie neuerdings verstärkt machen, das haben Apotheker in ihrer Ausbildung zwar erlernt, doch in der Praxis wohl wenig(er) anwenden müssen. Bis eben nun der Ernstfall eingetreten ist. Jetzt heißt es also: Fiebersäfte anrühren, Zäpfchen gießen oder Schmerzmittel verfüllen. In Handarbeit. Wie früher.
Eine Pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA) bearbeitet eine Schale mit weißem Stoff. Sieht aus wie Backpulver, ist aber Ketamin. Sie füllt das Schmerz- oder Narkosemittel, von einigen als Partydroge zweckentfremdet, in eine Kapselmaschine, die einer Handpresse ähnelt. Das Pulver wird auf einer löchrigen Bodenplatte in kleine Aussparungen gleichmäßig mit einem Schieber gestrichen, dann in 300 je zehn-Milligramm-Kapseln aus Gelatine gepresst. Automatisiert passiert da nichts. Ähnlich ist es bei der Herstellung von Fiebersäften und Zäpfchen, die in Zeiten der Tridemie – der derzeit gleichzeitig auftretenden Krankheitswelle aus RS-Virus, Influenza und Covid-19 – so stark gefragt sind, dass der Bedarf das Angebot übersteigt.
Zäpfchen werden in Formen gegossen
Bei der manuellen Fiebersaft-Herstellung greift man auf einen Grundstoff zurück. Eigentlich. Dr. Fehske vergleicht das gern mit Dr. Oetker. Wie Backmischungen oder Fertig-Kuchenboden sei das. Nur: Dr. Oetker für Apotheker ist wohl auch Mangelware. Gestörte Lieferketten, nach Asien verlagerte Produktionskapazitäten und so weiter. In der Rathaus-Apotheke mischen sie daher auch die flüssige Basis für den Fiebersaft selber, aus Wasser, Zucker und einem Verdickungsmittel. Dann kommt der Wirkstoff rein, Ibuprofen- oder Paracetamol-Pulver. Ähnlich ist der Vorgang bei der manuellen Zäpfchen-Herstellung.
Hier ist Hartfett die Grundlage. Das wird geschmolzen, dann der Wirkstoff beigemischt. Die weiche Masse füllen die PTAs in eine Zäpfchen-Gießform, in der das Liquid innerhalb von etwa 15 Minuten aushärtet.
Es gibt Einwegformen aus Plastik, in die zehn Zäpfchen passen. Vorteil: Die Zäpfchen sind bereits portioniert, die Einwegform mit Inhalt wird für den Verkauf nur noch in einen Klarsichtbeutel gepackt. Nachteil: Auch diese Einweggießformen sind Mangelware. Deshalb nutzt das Team von Christian Fehske zum einen Metallgießformen, bei denen die Zäpfchen allerdings nach dem Einfüllen und Aushärten per Hand für den Verkauf portioniert werden müssen. Zum anderen setzen er und Katharina Klaas auf Nachbarschaftshilfe unter Wettbewerbern.
Kooperation der Wettbewerber
Klaas arbeitet gegenüber, in der J-Apotheke. Sie hatten noch Einwegformen, 200 Stück, aber null Ibuprofen und Paracetamol (auch Mangelware...). Christian Fehske hingegen fehlten Einwegformen, nicht aber die Wirkstoffe. Er habe, erzählt er, zu Beginn der Corona-Pandemie in China Paracetamol gekauft: 50 Kilogramm Pulver, geliefert in Fässern. In seinem Labor steht auch ein Eimer mit einem Kilo Ibuprofen-Pulver griffbereit. Er lieh sich dann von Klaas 100 Einwegformen. Zwei halbe Sachen, ein gemeinsamer Weg. „Bei solch einem Thema“, sagen beide, „steht man auch als Wettbewerber zusammen.“
Trotz dieser Kooperation ist und bleibt die Herstellung von Fiebersäften und Zäpfchen zeitintensiv. Für 200 Zäpfchen benötigen sie – inklusive Portionieren – etwa zwei Stunden. Aufwendig ist unter anderem, dass der Wirkstoff unterschiedlich dosiert werden muss, etwa für Kinder, bei denen Alter und insbesondere Gewicht für die Dosierung entscheidend sind, wie die Apotheker erklären.
Der Fiebersaft kostet 20 Euro – mindestens
Fiebersaft – den Katharina Klaas und Kollegen ab Januar auch in der J-Apotheke herstellen, weil die Rohstoffe nun nachbestellt werden konnten – setzen sie in der Rathaus-Apotheke inzwischen viermal pro Tag an. Abgefüllt wird in 100-Milliliter-Flaschen. Zwei Stunden dauert die manuelle Herstellung. All das spiegelt sich im Preis wider.
Industriell hergestellter Fiebersaft koste fünf bis sechs Euro. Der manuell produzierte: zwischen 20 und 30 Euro, je nach Kosten für den Wirkstoff. „Wir geben 50 Prozent Rabatt auf Fiebersaft“, sagt Christian Fehske, der von einer Kundin berichtet, die sich dennoch vor die Wahl gestellt gesehen habe, ihren Kindern etwas zu essen zu kaufen – oder Fiebersaft.
So weit ist es schon gekommen.