Hagen. Er galt als Karl Lauterbach von Brüssel, als Corona-Vorsichtiger. Nun will Peter Liese (CDU) Quarantänepflicht und Dauerlüften in Schulen kippen.

Er hat gemahnt und Verschärfungen gefordert. Er hat sich in dieser nun schon gut zweieinhalb Jahre währenden Pandemie gegen Ansichten seiner Parteifreunde gestellt, wenn ihm der Corona-Kurs nicht streng genug erschien. Peter Liese (56) aus Meschede, selbst Mediziner, heute aber vor allem als CDU-Abgeordneter im Europaparlament bekannt, gehörte zu den sehr Vorsichtigen im Umgang mit dem Virus. Doch jetzt ändert er die Rolle: Dr. Liese mahnt erneut. Diesmal aber zu Lockerungen.

Zu Lockerungen, die weiter gehen als es die Gesetzeslage des Bundes vorsieht. Die weiter gehen, als die ihm nahe stehende schwarz-grüne Landesregierung es bislang beschlossen hat. Er tritt entschlossen auf im Gespräch mit unserer Zeitung, aber hinter dem Mann, den der Spiegel als „so etwas wie der Karl Lauterbach von Brüssel“ beschrieben hat, liegen Wochen des Überlegens über Inhalte und den richtigen Zeitpunkt – und er ahnt, dass er ein politisches Risiko eingeht, wenn er daneben liegt: „Ich habe es mir nicht leicht gemacht. Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, ob und wie ich mich positioniere – gerade jetzt zu Beginn der Herbst-Winter-Zeit. Aber ich bin jetzt überzeugt, dass es richtig ist, jetzt weitere Corona-Beschränkungen zu lockern.“

CDU-Parteifreunde Wüst und Laumann überzeugen

Nun geht er in die Offensive, hat auch seine Parteifreunde, Ministerpräsident Hendrik Wüst und NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, angeschrieben, um sie zu überzeugen. Lieses Hauptforderungen: Die Pflicht zur Quarantäne oder genauer gesagt zur häuslichen Isolation, die auch aktuell Tausende Corona-Infizierte allein in NRW trifft, soll entfallen. Zumindest in großen Teilen. Und in den Schulen soll auch eine letzte, in den Unterrichtsalltag stark eingreifende Maßnahme fallen: Das viertelstündige oder gar dauerhafte Lüften.

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Die Quarantänepflicht aufzuheben und es in die Selbstverantwortung der Menschen zu stellen, sich mit Symptomen fern von anderen zu halten, hält Liese für vertretbar: „Denn ich schaue in andere EU-Länder wie Spanien, die die Quarantänepflicht schon länger ausgesetzt haben. Hier gibt es im Vergleich zu Deutschland keine Unterschiede, die diese Beschränkungen weiter als verhältnismäßig erscheinen lassen.“ Im Gegenteil bestehe die Gefahr, dass man die kritische Infrastruktur durch zu viele Ausfälle schwäche. „Ich fahre viel Bahn, ich bekommen ja mit, dass wieder ein Fernzug, dass wieder eine S-Bahn ausfällt, weil Lokführer fehlen. Aber warum sollte ein Lokführer, der infiziert ist, aber keine Symptome zeigt, nicht die Bahn steuern können?“ Aufrecht erhalten will er die Isolationspflicht nur beim beim Personal im medizinischen Bereich und in der Pflege. Hier gebe es zu viele Menschen mit geschwächtem Immunsystem.

Dauerlüften im Unterricht nicht verhältnismäßig

Und auch in der Schule ist für ihn die Zeit zum Umdenken reif, das Dauerlüften sei nicht mehr nötig. „Das stört den Unterricht durch die Geräuschkulisse von außen. Und bei Minusgraden im Winter wird das ohnehin nicht möglich sein. Außerdem ist Energiesparen aktuell oberstes Gebot, es ist völlig unverhältnismäßig gegen geöffnete Fenster anzuheizen. Denn alle Erkenntnisse zeigen, dass ein schwerer Verlauf einer Corona-Infektion bei Kindern und Jugendlichen äußerst unwahrscheinlich ist.“

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Was treibt ihn an, gerade jetzt in die Offensive zu gehen? „Dass ich meine Positionen weiterentwickelt habe, liegt vor allem an den Gesprächen mit vielen Mediziner-Kollegen aus der Praxis, die sagen, dass sie die schweren Fälle nicht mehr sehen“, sagt Peter Liese. Er habe immer wieder Verschärfungen von Maßnahmen gefordert, wenn Erkenntnisse von Wissenschaftlern oder Beobachtungen aus dem Ausland dies notwendig gemacht hätten. „Aber als Mediziner weiß ich auch, dass man die Strategie ändern muss, wenn sich die Faktenlage geändert hat. Und das hat sie. Omikron ist nicht Delta.“ Es gebe eine so hohe Grundimmunisierung in der Bevölkerung, dass eine weitere Lockerung vertretbar sei. Es gebe nicht mehr die dramatischen Todeszahlen wie in der zweiten Welle der Pandemie und auch keine drohende Überlastung mehr auf den Intensivstationen.

Immunologe Watzl sieht Lieses Lockerung skeptisch

Stimmt das? Ein Blick auf die Region: Die Sieben-Tage-Inzidenz, ist – bei allen Vorbehalten, ob sie das gesamte Infektionsgeschehen darstellt – zuletzt im gesamten Regierungsbezirk Arnsberg gestiegen. Insgesamt sind in den zwölf Kreisen und Großstädten inzwischen rund 5520 Menschen seit März 2020 im Zusammenhang mit dem Virus gestorben – zuletzt aber nicht mehr so viele, in den Sommermonaten waren es rund 500. Und auf den Intensivstationen werden nur vereinzelt Patienten, die infiziert sind, behandelt – flächendeckend liegt der Wert unter zehn Prozent aller Patienten.

Carsten Watzl ist auch  Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
Carsten Watzl ist auch Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. © Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo)/dpa

Gleichwohl gibt es Zweifel an Lieses Vorstoß. Nachfrage bei Professor Carsten Watzl, Immunologe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund. Etwa zur Aufweichung der Isolationspflicht. „Generell zu sagen, infektiöse Personen können sich nahezu frei in der Gesellschaft bewegen, finde ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht das richtige Signal.“ Welcher Arbeitnehmer habe denn weder auf dem Weg zur Arbeit noch an der Arbeit keinen Kontakt zu Mitarbeitern oder Kunden? „Der Lokführer ist hier sicherlich ein Ausnahmefall“, so Watzl.

Einigkeit beim Thema Impfen: Stiko-Empfehlung beachten

Der Immunologe stimmt dem Gesundheitspolitiker Peter Liese zu, dass durch Impfung und Genesung bei den Erwachsenen und auch bei Schülern in Deutschland eine sehr hohe Grundimmunität erreicht worden sei. „Es gibt für mich aber immer noch einen Grund, auch ein Auge auf die Inzidenzen zu haben: Wenn sich zu viele Personen anstecken und mit Symptomen krankheitsbedingt ausfallen, kann es in Betrieben zu Personalmangel kommen“, so Professor Carsten Watzl. Daher mache es im Winter bei sehr hohen Inzidenzen durchaus Sinn, wenn Arbeitgeber Maßnahmen ergriffen, um unkontrollierte Ansteckungen zu reduzieren. „Und dafür hat sich das Maskentragen gerade in Innenräumen nun mal bewährt.“

Hier treffen sich dann wieder die Ansichten des Wissenschaftlers und des Politikers Liese. Der sagt auch: „Wer wirklich krank ist, sollte sich von anderen fernhalten. Masken können auch weiter sinnvoll sein. Aber es ist jetzt die Zeit, den Schalter umzulegen auf Selbstverantwortung.“ Einig sind sie sich vor allem auch beim Thema Impfen – gegen Corona, aber auch gegen die Grippe, die Influenza. Beide rufen dazu auf, sich impfen zu lassen und den Empfehlungen der ständigen Impfkommission (Stiko) zu folgen.

>> HINTERGRUND: In Hagen ist die Todesrate am höchsten

  • Seit zweieinhalb Jahren hält die Corona-Pandemie auch den Regierungsbezirk Arnsberg fest im Griff. Die Langzeitbeobachtung unserer Zeitung zeigt: Heruntergerechnet auf jeweils 100.000 Einwohner gab es die meisten registrierten Corona-Infektionen in den zwölf Landkreise und Großstädten des Regierungsbezirks im Märkischen Kreis. In Hagen sind seitdem aber im Verhältnis deutlich mehr Menschen an dem Virus gestorben.
  • Insgesamt sind – das zeigen die Zahlen des Robert Koch-Institus – im Regierungsbezirk Arnsberg bei 3,5 Millionen Einwohnern bislang rund 1,3 Millionen Corona-Infektionen registriert worden. Aus den Zahlen geht allerdings nicht hervor, wie viele Menschen sich mehrfach infiziert haben. Bislang sind rund 5520 Menschen in der Region an oder mit dem Virus verstorben, zu Jahresbeginn lag die Zahl noch bei rund 4000.