Hagen. Der renommierte Choreograph Urs Dietrich probt mit der Hagener Ballett-Compagnie. Wir durften schon mal zuschauen beim neuen Tanzstück „Über_Uns“

Wie aus weiter Ferne schweben Melodiefragmente von „Stille Nacht“ über die Bühne. Tröstlich und doch unerreichbar. Die Klänge treffen Sara Pe~na mitten in ihrem einsamen Solo. Gennaro Chianese kommt hinzu. Aus dem Solo wird ein Duett. Alles ruht. Einsam wacht. Das Paar dreht sich über die Bühne. Und doch stimmt etwas nicht mit dieser Annäherung. Urs Dietrich probt am TheaterHagen sein neue Choreographie „Über_Uns“. Der sehr bekannte und vielfach ausgezeichnete Schweizer Choreograph entwickelt mit der Hagener Compagnie ein Stück über Nähe und die Unmöglichkeit zur Nähe, über Gruppenzwang und Distanz. Dazu spielen Musiker der Hagener Philharmoniker Streichquartette von Franz Schubert und Henryk Mikolaj Górecki. Darunter „…songs are sung“ mit „Stille Nacht“.

Weißer Stoffhimmel

Die Windmaschine streikt. Der wunderbare, überraschende weiße Stoffhimmel, den Bühnenbildner Alfred Peter für „Über_Uns“ entwickelt hat, bläht sich nicht wie vorgesehen auf. Urs Dietrich eilt zur Bühne. Mit unvorhergesehenen Entwicklungen wird der Choreograph fertig, die gehören bei den Proben zum Theateralltag. Bis zur Premiere am Samstag wird alles sitzen.

Die Tänzer treten in rascher Folge auf und wieder ab, eine Serie von kleinen Soli, Miniaturen über existenzielle Situationen. Warten. Halten. Kämpfen. Lieben. Das Panorama menschlicher Seinszustände wird hier unter das Mikroskop gelegt. Urs Dietrich geht in seiner Kunst stets von der Alltagssituation aus, von der beiläufigen Geste. „Über_Uns“ erzählt von uns allen, von gestressten Menschen, die auf ihr Smartphone schauen, statt dem Nachbarn ins Gesicht, die sich in Massen drängeln, an der U-Bahn oder auf der Straße, aber die doch so einsam sind. Marsch. Schritt. Laufen. Einfrieren.

„Ich fange mit Bewegungen an, mit ganz normalen Bewegungen. Ich gehe immer vom Menschen aus“, sagt Urs Dietrich. „Meine Menschen sind einsam und zeigen ihre Einsamkeit im Spiegel.“ Ballettmanagerin Waltraud Körver reflektiert die Auswirkungen der Coronasituation auf die künstlerische Arbeit. „Tanz soll nicht nur schön sein“, unterstreicht sie. „Die Isolierung der letzten beiden Jahre tritt mehr und mehr zu Tage. Durch die Pandemie ist man mehr auf sich selbst geworfen. Die Welt ist aus den Fugen.“

Schuberts Musik-Poesie

Über aller Einsamkeit schwebt die abgrundtiefe Poesie der Streichquartette Nr. 2 und Nr. 4 von Franz Schubert. 15 Jahre war der Komponist alt, als er Nr. 2 schrieb. Wie kann ein so junger Mann soviel Weltwissen mit soviel Himmelssehnsucht in seiner Musik vereinen? Zwei Ensembles der Hagener Philharmoniker werden sich bei den Aufführungen mit der Interpretation abwechseln. Die Musiker sitzen teils auch auf der Bühne und sind Bestandteil des Bildes. Und dann es gibt jenes Streichquartett von Gorecki, welches der Komponist für das Kronos-Quartett schrieb, das seinen Titel „…songs are sung“ von einer Gedichtzeile hat: Wenn die Leute sterben, singt man Lieder.

Wie aufgezogen

Schuberts Himmelsmusik und Goreckis rhythmusbetonte Getriebenheit erzeugen einen Spannungsbogen, den die Compagnie virtuos durchmisst. Die Gruppe befindet sich in unaufhörlicher Bewegung, sie tanzt wie aufgezogen. So entsteht der Eindruck, es würde sich um mechanische Menschen, handeln, um Droiden. Das ist außerordentlich anspruchsvoll umzusetzen, denn die Tänzer müssen gleichsam ganz weit zurückgehen und sezieren, wie ein Schulter- oder Kniegelenk überhaupt funktioniert und den Bewegungsablauf dann neu zusammensetzen.

Urs Dietrich hat an der Folkwang-Hochschule in Essen studiert und am Folkwang-Studio auch gearbeitet. Fast 20 Jahre lang prägte er das Bremer Tanztheater, teils zusammen mit Susanne Linke, als Tänzer, Choreograph und Leiter. Inzwischen ist er freiberuflich unterwegs. Der stille Mann mit dem langen grauen Pferdeschwanz gilt als Ausnahmeerscheinung unter den Choreographen, weil er sich eben auf schlichte Gesten konzentriert und daraus eine raumfüllende Tanz- und Bildsprache entwickelt, welche unsere Zeit kritisch hinterfragt. Den „Wahrheitssucher“ nennen sie ihn in der Theaterwelt.

TRautes Paar allein?

Was stimmt nicht mit den Annäherungen zwischen den Tänzern, auch bei dem trauten Paar aus „Stille Nacht“? Die Szenerie ist wie verzaubert und irritiert gleichermaßen. Denn es gibt bei aller Virtuosität der Körpersprache keine Berührung, keine Intimität. Nur ein einziges Mal legt ein Tänzer einer Tänzerin die Hand auf die Schulter. Eine Geste wie eine Vulkanexplosion.

Die Premiere von „Unter_Uns“ ist am 16. April am Theater hagen. Weitere Termine und Karten: www.theaterhagen.de