Hagen. Trotz steigender Inzidenzen: Viele Begegnungen sind möglich. Aber was vor Corona normal war, erscheint jetzt extrem. Vier Episoden zeigen das.

Extrem? Nein, als extrem hätten wir diese Situationen vor Corona wohl kaum empfunden. Auf die Soester Allerheiligenkirmes gehen, die Sauna besuchen, den 80. Geburtstag feiern oder im Großraumbüro arbeiten – das war Alltag, Normalität. Aber jetzt? Da zuckt man oft immer noch zusammen: Darf man das wieder? Sich unter Hunderte und Tausende von Menschen mischen? (Fast) nackt mit anderen Menschen in der Sauna schwitzen? Nicht mehr im Homeoffice­ per Videokonferenz kommunizieren, sondern mit den Kolleginnen und Kollegen in einem großen Raum sitzen, reden, lachen? Ja, wir können uns wiedersehen – auch wenn die Inzidenzen wieder steigen. Aber wie haben sich unserer Begegnungen verändert? Wir waren an vier Schauplätzen, um herauszufinden, wie sich das neue Wiedersehen anfühlt.

Die Massen auf der Kirmes

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Für Patrick Drees (53) ist die Allerheiligenkirmes in Soest eine Herzensangelegenheit. „Erstmals seit zehn Jahren hatten wir einen Sitzplatz im Zug und haben miterlebt, dass alle Fahrgäste auf dem Bahnsteig auch einsteigen konnten“, frohlockt der Werler. Nach zehn Minuten Fahrt hatte die „Werler Runde“, so nennen sich die Kirmesgänger, Soest erreicht – und konnte ihr Glück kaum fassen: „Ich bin so erleichtert, dass die Kirmes nach einem Corona-Jahr Pause wieder stattfindet“, sagt Drees und erzählt, dass die „Runde“ diesmal nur aus der Hälfte der üblichen Teilnehmer besteht. „Einigen von uns war eine Massenveranstaltung in der Pandemie noch zu unsicher.“

Es ist viel los auf Europas größter Altstadtkirmes, als die Clique aus Werl am Bierstand Position bezieht. „Aber es sind deutlich weniger Besucher als sonst hier“, sagt Drees, „vielleicht 50 Prozent.“ Aber, so sagt er, die, die da sind, seien durchaus aufmerksam und sich der Pandemie bewusst: „Die Leute passen schon auf und versuchen, einigermaßen Abstand zu halten.“

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Maskenträger sieht man so gut wie keine. Auch Elmar Gumplinger hat keinen Mund-Nasen-Schutz angelegt. „Ich fühle mich sicher, bin doppelt geimpft“, sagt der 37-Jährige aus Niederbayern, der mittlerweile zu einem großen Soester-Kirmes-Fan geworden ist. Die 600 Kilometer-Fahrt hat er gerne auf sich genommen. Jetzt steht der Anhänger eines westfälischen Fußball-Bundesligisten in seiner schwarz-gelben Jacke an dem Bierstand, an dem das Pils einer bekannten Sauerländer Brauerei ausgeschenkt wird, die einen Konkurrenz-Verein sponsert. „Schmeckt echt lecker“, sagt Gumplinger. Eine Kirmes kann auch fußballvölkerverbindend sein.

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Etwas Verbindendes hat auch Johannes Heinrich Amelunxen. Er ist ein Kirmes-Original, hat sich beim Deutschen Patent- und Markenamt den Begriff „Dr. met“ schützen lassen und bietet wie eh und je an einem Stand seinen Honiglikör an. Und unterhält die Kirmesgänger mit Schlagern („Drei weiße Tauben“) und flotten Sprüchen. „Die Leute haben eineinhalb Jahre in der Bude gehockt“, sagt er, „die wollen endlich wieder ‘was erleben.“ Für die Kirmesbesucher wünscht er nur eines: „Dass sie Spaß haben und gesund wieder nach Hause gehen.“

Den Kirmesbesuch lässt sich auch die Soester Bördekönigin Jonna Mabel Prange nicht entgehen. „Es ist in diesem Jahr eine ganz andere Stimmung in der Luft“, sagt sie, „viel wertschätzender.“ Auch sie wurde in der Soester City vom Sicherheitspersonal auf ihren Impfstatus kontrolliert und trägt jetzt – für spätere Kontrollen, unter anderem an Kneipeneingängen­ – ein buntes Bändchen am Arm. Wie der Niederbayer Elmar­ Gumplinger­: „Für mich ist das so ­etwas wie ein Ticket in die Freiheit.“

Die Sauna

Kaum ein Bereich der Freizeitgestaltung ist intimer und persönlicher als die Sauna. Mit Fremden nackt in einem eher engen und heißen Raum zu sitzen, war angesichts der strengen Hygieneregeln nur bedingt oder gar nicht möglich. Wie konnten die Saunabetriebe dennoch die Gäste ins Schwitzen bringen? Und wie fühlen sich die Gäste dabei? „Das wird unterschiedlich angenommen. Ein Teil fühlt sich komplett wohl, es gibt jedoch auch andere Besuchergruppen, die sich weiterhin mehr Beschränkungen wünschen“, sagt Frederik Stolz, Betriebsleiter des Schwimm-In in Gevelsberg, mit großer Saunalandschaft. Einem unbeschwerten Saunabesuch steht aktuell mit dem 3-G-Nachweis nichts mehr im Weg. Und das sei auch gut so, erklärt Stolz. Denn das Schwitzen in der Sauna sei außerdem bekanntlich gut für die Gesundheit und das Immunsystem. Auch Aufgüsse und Anwendungen, die zeitweise nicht erlaubt waren, sind wieder möglich und verleihen dem Saunieren den Eventcharakter, den die Gäste lange Zeit missen mussten. „Die Saunen mussten mindestens 80 Grad warm sein. Dann wurde davon ausgegangen, dass die Viren weniger überleben“, sagt der Betriebsleiter. Masken müssen auch heute im Schwimm- und Saunabereich nicht getragen werden.

Nadine Klein, Saunameisterin im Schwimm-In Gevelsberg und ihr Team freuen sich darüber, dass sie die Gäste der Sauna endlich wieder mit Aufgüssen ins Schwitzen bringen können.
Nadine Klein, Saunameisterin im Schwimm-In Gevelsberg und ihr Team freuen sich darüber, dass sie die Gäste der Sauna endlich wieder mit Aufgüssen ins Schwitzen bringen können. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Für die Stammgäste und auch die Mitarbeiter, darunter Saunameisterin Nadine Klein, sei es jedoch wieder schön, so ist die Resonanz vom Team, in Richtung „Normalität“ zu kommen. „Wir machen aber alles noch mit angezogener Handbremse“, sagt der Chef. Was er sich wünscht: dass die gegenseitige Rücksichtnahme der Gäste sowie die Wertschätzung fürs Alltägliche, wie dem Saunagang, für die Zukunft mitgenommen wird. „Das bewusste Erleben und Wahrnehmen ist durch die Zeit verstärkt worden, und wir nehmen nicht alles als selbstverständlich wahr.“

Die Familienfeiern

„Die Stimmung bei Feten ist ausgelassener. Die Leute brauchen das aber auch. Die Leute lechzen danach, wieder raus zu kommen“, sagt Andrea Berger, Gastwirtin des Hotels und Restaurants Waldlust in Hagen. Sie ist froh, dass jetzt mit den 3-G-Regeln wieder Feste in ihrem Saal stattfinden können. Und das bemerke sie auch bei den Gästen – die Anfragen nach Feiern nehmen zu. Im August und September habe es viele Konfirmations- und Kommunionsfeiern gegeben, jetzt Richtung Winter kämen die ersten Anfragen für Weihnachtsfeiern. Was Andrea Berger aber vor allem auffällt, ist, dass die Anspannung bei den Gästen immer weiter abnimmt – Impfung, Tests und das Einchecken in der Luca-App geben immer mehr Sicherheit. Die Möglichkeiten, jetzt auch wieder mit der kompletten Familie oder mit Freunden zum Beispiel den Geburtstag feiern zu können, tue gut.

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Etwa 95 Prozent der Gäste von Feten seien aber bereits geimpft, schätzt Andrea Berger, der Rest sei getestet oder Kinder. Dennoch merke sie auch, dass es weiterhin einige gebe, die noch skeptisch seien, gerade jetzt, da die Fallzahlen wieder steigen. „Bei Hochzeiten sind die Veranstalter noch zurückhaltend, was die Planung betrifft“, erzählt sie und weiter: „Firmen sind auch noch etwas zurückhaltender, weil keiner für die Quarantäne einer ganzen Firma verantwortlich sein möchte, Familienfeiern oder geschlossene Gesellschaften unter sich sind da schon eher lockerer.“

Zur Serie „Wie wir uns wiedersehen“

Unser Miteinander hat sich in den letzten anderthalb Jahren in vielen Bereichen des täglichen Lebens verändert. Vom Büro, über den Besuch im Supermarkt, bei Freunden oder in der Kneipe: Viele von uns begegnen sich anders, oft vorsichtiger als zuvor.

Manche Arten der Begegnung haben sich durch Corona von Grund auf verändert, andere waren schon dabei, sich zu verändern und Corona hat diesen Prozess weiter beschleunigt.

Mit eben diesen „Begegnungen im Wandel“ befasst sich unsere große Serie „Wie wir uns wiedersehen“. In den nächsten Wochen berichten wir davon, wie sich das Miteinander in unserer Heimat verändert hat – vielleicht sogar für immer.

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Ein kleines Problem hat die Wirtin bei der Begrüßung erkannt – vielfach werde wieder die Hand gereicht „Darf man das schon?“, fragt Andrea Berger. Klar ist ihr aber: Die Begegnung in der Gaststätte und bei Feierlichkeiten ist enorm wichtig, nicht nur für sie als Wirtin, sondern auch für die Gäste, die Familien und Freunde, die bei ihr im Restaurant teils nach langer Zeit endlich wieder zusammenkommen.

Das Großraumbüro

Schon vor der Pandemie hatte der Hagener Energieversorger Enervie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit des mobilen Arbeitens eingeräumt. „Dieses Konzept wurde in der Pandemie ausgebaut“, sagt Vera Reuter, Bereichsleiterin Personal/Recht/Facilities, „und auch jetzt noch, angesichts der steigenden Inzidenzen, arbeiten die Kollegen weiter mehrheitlich daheim.“

Mit Blick auf die wenigen Kollegen, die im Moment zeitgleich im Büro tätig sind, habe sich das schon vor der Pandemie eingeführte offene Großraumkonzept mehr denn je bewährt, findet sie: „Es gibt bei uns keine festen Arbeitsplätze mehr. Wer abends den an diesem Tag benutzten Schreibtisch verlässt, muss ihn vollständig aufgeräumt zurücklassen (Clean-Desk-Prinzip). So als habe er ihn überhaupt nicht benutzt.“ Jeder, der am anderen Morgen ins Büro komme, habe dann kein Problem, einen Schreibtisch in ausreichendem Abstand zu anderen Kollegen zu belegen. Nebenbei bemerkt, so Vera Reuter: „Ein leerer Schreibtisch lässt sich unter hygienischen Aspekten besser reinigen als ein voller.“

Beim Hagener Energieversorger Enervie habe sich das schon vor der Pandemie eingeführte offene Großraumkonzept mehr denn je bewährt.
Beim Hagener Energieversorger Enervie habe sich das schon vor der Pandemie eingeführte offene Großraumkonzept mehr denn je bewährt. © Michael Kleinrensing

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Vor kurzem wollte der Energieversorger in einer internen Befragung der Arbeitshypothese nachgehen, ob sich die Mitarbeiter womöglich so sehr an das mobile Arbeiten gewöhnt haben, dass sie gar nicht zurück ins Büro wollen. Vera Reuter zufolge sagten die meisten Kollegen, dass das mobile Arbeiten gewisse Vorteile habe: Dass man Beruf und Privatleben besser vereinbaren und bisweilen konzentrierter arbeiten könne. „Aber unisono herrschte die Meinung: Es leiden die soziale Vernetzung, das Zwischenmenschliche und der Teamzusammenhalt, wenn man sich über Monate nicht sieht. Eine Videokonferenz kann das persönliche Gespräch nicht ersetzen. Der Austausch unter Kollegen, die sogenannten Flurgespräche oder gemeinsame Mittagspausen sind überaus wichtig. Aus den dort aufgeschnappten Kommunikationshappen zieht man immer wieder Informationen­, die man in der täglichen­ Arbeit berücksichtigen kann.“

Wie sieht die moderne Bürowelt aus? In Zukunft würden sich die Mitarbeiter nicht im Büro einfinden, um Schreibtischarbeit zu verrichten, sagt Vera Reuter. „Im Büro der Zukunft wird es um den kommunikativen Austausch gehen. Es wird also weniger Schreibtische geben, stattdessen mehr Kommunikations- und Begegnungsinseln.“

>> Große Serie: Wie wir uns wiedersehen

  • Mit „Begegnungen im Wandel“ befasst sich unsere große Serie „Wie wir uns wiedersehen“. In den kommenden Wochen berichten wir davon, wie sich das Miteinander in unserer Heimat verändert hat.
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