Drolshagen. . Der jüngste Marienaltar nördlich der Alpen steht in Drolshagen. Wie der Maler Thomas Jessen Tradition und Moderne verbindet

Ich sehe dich in 1000 Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt. (Novalis)


Maria ist die meist porträtierte Protagonistin der Kunstgeschichte. Wenn sie die Gottesmutter darstellen wollen, zeigen die Maler über 1000 Jahre hinweg jeweils moderne Frauen, um die Aktualität der Botschaft zu visualisieren. Das spiegelt sich in der Kleidung. Doch woher nimmt ein Künstler das Gesicht für die Madonna, wer sitzt ihm Modell?

Der Maler Thomas Jessen kleidet seine Muttergottes in dem neuen Retabel für St. Clemens in Drolshagen in Jeans und Rollkragenpullover. Auf den ersten Blick mutet das ungewöhnlich an, nicht aber, wenn man dieses Kostüm mit den Mariendarstellungen vergangener Jahrhunderte vergleicht. Jessens Maria ist eine Frau in mittleren Jahren, man sieht ihrem Gesicht das Leben an, ein Antlitz, das sich bei aller Mütterlichkeit und allem Wissen in den ernst blickenden Augen doch eine mädchenhafte Aura bewahrt hat. Pullover und Jeans sind blau, so blau wie der Marienmantel im mittelalterlichen Tafelbild. Die Farbe Blau verknüpft malerische Symbolik über die Jahrhunderte hinweg. Es gibt aber noch mehr Brückenschläge zwischen Vergangenheit und Zukunft in Jessens Altar.

Prostituierte und Geliebte

Der Künstler aus Eslohe ist nach Oberammergau gefahren, um das Vorbild für seine Maria zu finden. Dort spielt sie bei den Passionsspielen die Gottesmutter auf der Bühne. Von solchen ehrbaren Beschäftigungen sind die Madonnen Caravaggios weit entfernt. Der Barockmeister akquiriert seine Marien in den Prostituiertenvierteln. Raffael dagegen hat bei seiner Sixtinischen Madonna vermutlich das Gesicht seiner Geliebten verewigt.

Bei Peter Paul Rubens trägt die Muttergottes Dekolleté. Samt, Brokat und Seide schimmern um ihre Schultern, so wie es sich die wohlhabenden barocken Bürgerinnen in Flandern leisten können. Johann Georg Rudolphi (1633-1693), der angesehenste Barock-Maler im Fürstbistum Paderborn, wählt in seiner „Anbetung der Hirten“ für die Belecker St. Pankratius-Kirche genau das Gegenteil. Eine mädchenhafte Muttergottes sitzt im Stall neben der Krippe mit dem Kind und hat nur ein Unterkleid aus hellem Leinen an. Darüber schlingt sie ein voluminöses graublaues Manteltuch, das auch als Schleier funktioniert und die Haare komplett bedeckt.

Eine Familiengeschichte

Welche Botschaft verkündet diese Aufmachung? Rudolphi erzählt eine intime Familiengeschichte, in die das Außen mit dramatischer Wucht einbricht. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Maria schon nicht mehr zu dieser Welt gehört. So wie die Muttergottes von Thomas Jessen auf der Leiter über die irdische Sphäre hinaussteigt, so wird sie in diesem Bild durch das Licht, das von dem Kind in der Krippe ausgeht, hervorgehoben.

Der Maler Gert van Loon, geboren um 1465 in Geseke, gilt als letzter Spätgotiker Westfalens. In seinem „Volkreichen Kalvarienberg“ liefert er um 1520 einen regelrechten Katalog der spätmittelalterlichen Mode. Wir stellen einen Ausschnitt des Altarbildes aus dem Diözesanmuseum Paderborn vor: Die vier Marien stehen weinend unter dem Kreuz. Die Gottesmutter mit dem blauen Mantel ist verhüllt in der Tracht der verheirateten Frau jener Zeit: Kinnbinde (Gebende) und Rise. Die Rise ist ein schleierartiges, faltenreiches Tuch, das Wangen, Hals und Kinn der Trägerin bedeckt. Die Kombination aus Kinnbinde und Schleier wird zum Vorbild für die Nonnentracht. Hinter Maria Gottesmutter stehen Maria Kleophas und Maria Salome, die man schlecht auseinanderhalten kann. Eine tritt wohlhabender auf, mit einem aus prachtvollen Stoffen zum Turban gewickelten Wimpel.

Kinnbinde und Rollkragen

Maria Magdalena an der Seite der Gottesmutter lässt als unverheiratete Frau dagegen die Haare offen und den Hals frei. Darüber liegt ein zarter Schleier, der von einem reich bestickten Schapel gehalten wird. Spätestens hier fällt die Ähnlichkeit des Rollkragen-Pullovers im Altarbild von Thomas Jessen mit der spätmittelalterlichen Kinnbinde auf.

Raffaello Sanzio da Urbino hat im Jahr 1512 das berühmteste aller Marienbilder geschaffen, die Sixtinische Madonna. Nur wenige Bilder sind so wirkmächtig geworden wie diese Darstellung. Raffaels Imagination beeinflusst über Jahrhunderte hinweg viele Maler. Als Kopie hat es Raffaels Vorlage sogar zur Kitschmadonna gebracht, millionenfach industriell fabrizierte Kleinplastiken, Postkarten und Heiligenbildchen reproduzieren die Szene. Man kann sogar sagen: Raffaels Madonna aus der Renaissance liefert das Bild, das wir heute von der Muttergottes haben.

Mode der Renaissance

Raffael kleidet seine Maria in moderne Renaissance-Mode. Die engen Ärmel des Unterkleides, der Chemise, ragen aus dem roten Übergewand, der Cotte, hervor. Darüber drapiert Maria einen hellen Schleier und den blauen Mantel. Thomas Jessen greift die seit dem Mittelalter verwendete Farbsymbolik von Rot und Blau bei seiner Gottesmutter auf.

Marienaltäre haben in Westfalen eine lange Tradition. Das älteste erhaltene Tafelbild nördlich der Alpen ist das Soester Antependium von 1170. Dem unbekannten Meister geht es um die Gottesmutter und den mystischen Moment der Wandlung von Hostie und Wein zu Leib und Blut des Erlösers. Damit schließt sich der Kreis. Denn der jüngste Marienaltar nördlich der Alpen steht nun in Drolshagen. Und auch im Werk von Thomas Jessen verbindet die Muttergottes die rot pulsierende irdische Sphäre mit dem tiefen Blau des Himmels und des eucharistischen Geheimnisses.

Der Altar wird vorgestellt

Mit einer Reihe von geistlichen Abendimpulsen stellt die St. Clemens Pfarrgemeinde den neuen Altar vor, der am Pfingstmontag durch den Paderborner Weihbischof Matthias König eingeweiht wird. Die Termine: Mittwoch, 26. Mai „Durchschaute Wirklichkeit“. 19.00 Uhr. Dr. Monika Willer von der Kulturredaktion der Westfalenpost,eröffnet Zugänge zum neuen Altarbild. Mittwoch, 2. Juni, 19 Uhr: Der Künstler hat das Wort. Abendimpuls mit Thomas Jessen, Eslohe. Mittwoch, 9. Juni, 19Uhr: Nun glaub ich fest und zweifel nicht, ob Höll und Welt auch widerspricht? - Vom Lob des Zweifels und vom Glauben des ungläubigen Thomas, Abendimpuls mit Hartwig Trinn, Diplom-Theologe. Eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich. Es gelten die aktuellen Corona-Auflagen. www.kirchspiel-drolshagen.de