Drolshagen/Eslohe. Der Künstler Thomas Jessen aus Eslohe malt einen zeitgenössischen Altar für St. Clemens in Drolshagen. Wir haben im Atelier zugesehen

Karfreitag 2021 steht Thomas Jessen (62) in seinem Atelier in Eslohe auf der Arbeitsbühne und malt die Passion Christi. Auch für einen katholischen Künstler ist das ungewöhnlich und tief bewegend. Jessen gestaltet einen monumentalen Flügelaltar für St. Clemens in Drolshagen. 4,10 Meter hoch, fünf Meter breit, bestes Rubens-Format also. Nur wenige Kirchen geben zeitgenössische Tafelaltäre in Auftrag, so wie Pfarrer Markus Leber und der Kirchenvorstand der katholischen Gemeinde im Kreis Olpe.

In der Mitte befindet sich eine Frau auf Leitersprossen und reicht einem Mann ihren Gürtel herab. Bewusst hat Thomas Jessen das Motiv der Gürtelspende um seinen Namenspatron, den Apostel Thomas, in das Werk aufgenommen. Die Frau im blauem Rollkragenpulli ist die Muttergottes, sie steht auf der Himmelsleiter und bietet dem ungläubigen Thomas ihren Gürtel an. Denn Thomas zweifelt an der Aufnahme Mariens in den Himmel ebenso wie an der Auferstehung.

Der rote Grund des Lebens

Auferstehung: Das grab ist leer. Detail aus dem Flügelaltar von Thomas Jessen für St. Clemens Drolshagen
Auferstehung: Das grab ist leer. Detail aus dem Flügelaltar von Thomas Jessen für St. Clemens Drolshagen © Thomas Jessen | Thomas Jessen

Himmel und Erde werden vor dem roten Grund des Lebens wie mit einer Nabelschnur verbunden, und St. Thomas, der ein Gemälde Caravaggios mit seiner Legende in der Hand hält, steht für die Christenmenschen mit ihren Zweifeln und Ängsten. „Der Auftrag an Kunst im Raum der Kirche ist eine Einladung an den Betrachter, mit ins Bild zu steigen. Das ist es, was Liturgie meint: Ich bin mit hineingenommen. Der Glaube lebt vom berührt werden“, unterstreicht Pastor Leber als Auftraggeber des Altars.

Volksfrömmigkeit trifft auf tiefe theologische Durchdringung

Thomas Jessens Flügelaltar lässt sich in vielen Schichten lesen. Symbole der Volksfrömmigkeit treffen auf tiefe theologische Durchdringung. Der rote Grund hinter der Gottesmutter beispielsweise ist eine stark spiegelnde Farbfläche, das heißt: Geht der Betrachter nah heran, sieht er sich selbst. Er wird Teil der Verbindung zwischen Himmel und Erde, die Maria mit der Gürtelspende anbietet.

Immer wieder bricht das Gemälde aus der Gegenwart aus und verbindet Vermächtnis mit Verheißung. Die Zeit gewinnt räumliche Dimension. Christgeburt in Bethlehem und Auferstehung sind ikonographisch Anklänge an die frühesten christlichen Malereien; das Caravaggio-Zitat bringt barocke Referenzen ins Spiel, der Efeu ist eine Verbeugung vor den mittelalterlichen Meistern mit ihrer Pflanzensymbolik: Er steht für die Unsterblichkeit.

Thomas Jessen deutet den Dreiklang von Geburt, Passion und Auferstehung auf vielen Ebenen aus. Und wie die Kirchenmaler vor ihm komponiert er Gleichnisse, die man in betrachtender Kontemplation entschlüsseln soll. „So etwas fügt sich ja über Jahre“, beschreibt er seine Komposition.

Madonna im modernen Gewand

Eine Muttergottes ohne Manteltuch? „Ich kann nicht bedienen, was man im Kopf hat“, sagt Thomas Jessen. Was er nicht sagt: Auch Rubens, dessen Madonnen wir heute noch bewundern, hat selbstverständlich Frauen in zeitgenössischer Kleidung gemalt, nur eben vor 400 Jahren. Das Marienbild in der Kunst geht auf das mittelalterliche Andachtsbild zurück. Die moderne Darstellung des Gewands signalisiert schon damals, dass die Botschaften den Betrachter angehen.

Christi Geburt in Bethlehem: Detail aus dem Altar von Thomas Jessen für St. Clemens in Drolshagen.  
Christi Geburt in Bethlehem: Detail aus dem Altar von Thomas Jessen für St. Clemens in Drolshagen.   © Thomas Jessen | Thomas Jessen

Warum überhaupt machen sich die Christen ein Bild von ihrem Gott? Im Judentum und im Islam gilt ein Bilderverbot. Auch diese Frage untersucht Thomas Jessen, denn das Schweißtuch der Veronika mit dem Antlitz Christi ist im linken Altarflügel zu sehen. Das Schweißtuch der Veronika, das Vera icon, gilt als Urbild des Glaubens. „Vom Gottmensch kann sich der Gläubige mit Fug und Recht Bilder machen. Es gibt nicht das einzig wahre. Durch viele Bilder hindurch schaut er den Gottessohn. Die Freiheit der Kunst im Christentum ist nur möglich vor diesem Hintergrund“, erläutert Prof. Dr. Christoph Stiegemann, früherer Leiter des Diözesanmuseums Paderborn, der St. Clemens bei dem Altarprojekt beraten hat.

St. Veronika ist im wahren Leben Bildschnitzerin

Der Drolshagener Altar zeigt parallel zum Schweißtuch eine junge Frau, die einen Schleier aus Holz schnitzt. Modell stand Veronika Hecht, die bei den Passionsspielen in Oberammergau 2022 die Veronika spielen wird und im echten Leben Holzbildschnitzerin ist. Ihre Mutter Andrea Hecht ist in Oberammergau die Darstellerin der Gottesmutter Maria und leiht der Muttergottes im Altarbild ihr Gesicht. Maria steht auf ihrer Leiter, die hl. Veronika auf einem Tritt. Ihre Füße berühren den Boden nicht. Beide sind nicht ganz von dieser Welt.

Der Gekreuzigte schwebt vor dem himmlischen Blau

Der Gekreuzigte wird auf den ersten Blick im Zentrum des Retabels von zwei Zeitgenossen an die Wand genagelt. Der Betrachter erschrickt. Das sind ja wir! Doch bei näherem Hinsehen erweist sich die Ikonographie als komplexer. Die Männer sind Handwerker, sie hängen ein Tafelbild mit einer Passionsdarstellung auf. Diese Tafel hat Thomas Jessen vor wenigen Jahren für die Kreuzkapelle im Bischofshaus in Speyer gestaltet. „Der Gekreuzigte schwebt ohne Kreuz vor dem blauen Hintergrund“, erläutert Jessen. „In Speyer habe ich zum ersten Mal das Blau verwendet. Das Blau zieht sich ins All.“

Die Farbe Blau bildet den Resonanzraum, der die drei Flügel des Altars zu einer Einheit verbindet. Blau ist die Symbolfarbe des Himmels, der Ewigkeit, eben der Verheißung.

Nun muss Thomas Jessen seinen Altar loslassen, und dabei ist die Farbe noch gar nicht richtig trocken. Er wird im Lkw von Eslohe nach Drolshagen transportiert, in St. Clemens an die Wand gebracht und ausgeleuchtet. Das ist ein schwerer Moment. Jessen: „Einen Altar zu malen, ist für einen Künstler kein Alltag.“