Eslohe. Was macht Corona mit freiberuflichen Künstlern? Heute schildert der Maler Thomas Jessen, wie die Pandemie Arbeit und Privatleben verändert
Thomas Jessen lebt von und mit Extremsituationen. Zeugung, Geburt und Tod sind die Motive des renommierten freiberuflichen Malers aus Eslohe. Die Energie, die im Zwischenmenschlichen frei wird, ist der Motor seiner Kunst. Was macht Corona mit dem Künstler? Für Thomas Jessen verändert die Pandemie Arbeit und Privatleben gleichermaßen. Er kann seine Gemälde nicht auf Ausstellungen zeigen, damit entfällt die inhaltliche Rückkopplung zum Publikum. „Wir dürfen keine Freude mehr haben, wir dürfen keine Schützenfeste mehr feiern, keine Musik mehr machen, und trotzdem werden wir Corona nicht ausrotten können.“
Als Corona-Leugner oder Verschwörungstheoretiker sieht sich der 62-Jährige nicht; er informiert sich täglich über die Zahlen, aber er zieht daraus andere Schlussfolgerungen als die Regierung. Den Lockdown hält er für falsch. Gegen Masern hat er seine Kinder impfen lassen, aber den mRNA-Vakzinen misstraut er. Tagsüber arbeitet Jessen wie immer einsam und isoliert in seinem Atelier, „ich habe den ganzen Tag Quarantäne“. Abends fehlen ihm die Begegnungen mit Freunden, das Trompetenspiel im Blasorchester St. Peter und Paul Eslohe und bei den Parforcehornbläsern Homert. Selbst das Einkaufen ist ihm genommen, denn er erträgt die Maske nicht.
Ein Leben unter Generalverdacht
Also malt Jessen. Wie ein Besessener. Er malt das, was fehlt. „Alles, was den Menschen ausmacht, lachen, schunkeln, singen, wird unter Generalverdacht gestellt, das ist das Diabolische an Corona. Die Maske nimmt mir die Luft. Als Maler muss ich den anderen sehen können, riechen können, fühlen können.“
Im Ersten Lockdown hat Thomas Jessen vor einem Geschäft das Schild „Abstand ist Anstand“ gesehen. „Darüber habe ich mich so geärgert.“ Aus dieser Wut sind fünfzig kleine Arbeiten entstanden, so „unanständig“ und so „abstandsfrei“ wie möglich. Sie zeigen größtmögliche Nähe, größtmögliche Berührung: den Liebesakt zwischen zwei Menschen; Szene für Szene spielt in einem anderen Land. Die entsprechenden Fotovorlagen hat Jessen im Internet recherchiert. Jeden Tag, von Ostern bis Pfingsten 2020, hat er einen intimen Blick in ein fremdes Schlafzimmer gewagt. „Ich hatte ja Zeit, der Ausstellungsdruck war weg, so konnte ich endlich Sachen malen, die ich sonst nie mache.“
Ur-Emotionen und Tabumomente
Eine weitere Corona-Serie erforscht Ur-Emotionen. Dafür porträtiert der vierfache Vater die Gesichter von Menschen in den drei Ursituationen: beim Orgasmus; bei der Geburt; und beim Sterben. „Das sind Tabumomente.“ Thomas Jessen hat sich quasi als Beobachter in seine eigenen Gemälde hineingespiegelt. „Ich übernehme die Voyeurfunktion, damit der Betrachter in Ruhe gucken kann. Diese Art der Verarbeitung, diese Schichtungen, dass man sich in Fenstern in seinem eigentlichen Bild spiegelt, das würde ich ohne Corona nie gemacht haben.“
Thomas Jessens Protagonisten haben ein Geheimnis. Das zu erkunden und gleichzeitig zu bewahren, macht seine Kunst so außergewöhnlich. Entsprechend sind seine Corona-Serien Bilder über die Einsamkeit des Menschen: In den wirklich extremen Momenten ist der Ecce homo allein. Und damit sind wir wieder beim Thema. „Ich habe keine Angst vor Covid-19, ich habe Angst vor den Einschränkungen meiner Grundrechte. Wenn etwas bedrohlich ist, versuche ich immer, meinen Kopf einzuschalten und zu analysieren, ob die Bedrohung wirklich so groß ist. Die Traumata durch Corona wird man aus der Gesellschaft nicht rauskriegen, wir werden nach Corona eine andere Gesellschaft sein als vorher.“
Der Markt mit digitaler Kunst boomt
Der Kunstmarkt funktioniert während der Pandemie weiter, auch wenn der physische Ausstellungsbetrieb ruht. Der Markt mit digitaler Kunst boomt sogar derzeit. Die Galerien, mit denen Thomas Jessen zusammenarbeitet, verkaufen seine physischen Bilder. Davon lebt er. Als geschätzter Porträtmaler nimmt Jessen sehr langfristig Anfragen an, das erweist sich jetzt als Vorteil. „Einige Porträtaufträge sind zurückgestellt, weil ich die Kunden unter Corona-Bedingungen nicht besuchen kann. Der Ausstellungsbetrieb als solcher hat sich vielleicht nach der Pandemie erübrigt, die Galerien gehen jetzt alle über Zoom. Ich hasse es. Man sieht doch nichts auf digitalen Bildern von Bildern.“
Mit den Augen der anderen sehen
Am härtesten trifft Jessen, dass er nicht bei den Kunstvereinen ausstellen kann. „Die sind noch wichtiger für mich als die Galerien. Wo soll ich denn die Bilder, die ich jetzt gemalt habe, zeigen? Bei Ausstellungen sieht man seine Bilder mit den Augen der Anderen. So kommt man weiter. Kunst macht man nicht für sich allein.“
Thomas Jessen überlegt, ob er eine Ausstellungsreihe anbieten soll, in der er sein Atelier für jeweils einen Besucher nach Anmeldung öffnet und mit diesem dann gemeinsam eine Stunde lang auf seine Werke schaut. Die natürliche Einsamkeit des Malers braucht das Gegengewicht der menschlichen Begegnung. „Für mich geht es um das Lebendig sein. Wer bin ich? Was bin ich? Das sind die Fragen, die die Menschen verbinden. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mit dieser Krise so sehr fremdele.“