Hagen. Familienfest und Urlaub? Die Hoffnung schwindet, dass die Ostertage „normale“ Feiertage werden. Was Zahlen verraten und Experten empfehlen.
Für Stefan und Sandra Jonassohn aus Meschede ist die Situation eigentlich schon klar: „Genau wie im letzten Jahr fällt das große Familien-Osterfest aus. Wir wären über 20 Personen – aus Einzelhandel, Pflege oder Industrie. Das Risiko möchte niemand eingehen.“
Dabei hatten kurz vor Weihnachten noch viele gehofft, dass an Ostern das nachgeholt werden kann, worauf man an Weihnachten noch verzichten musste: Familienfeiern oder auch Urlaub. Doch dieser Optimismus schwindet zunehmend. Gut zwei Wochen vor den Osterfeiertagen scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Doch ist die Situation tatsächlich vergleichbar? Eine Analyse:
Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche, ist weiter der entscheidende Wert, der über Lockerungen der Corona-Regelungen entscheidet. Und hier sieht die Lage in der Region aktuell – gut zwei Wochen vor Karfreitag – wesentlich besser aus als gut zwei Wochen vor Heiligabend: Außer im Märkischen Kreis ist die Inzidenz zum Teil viel niedriger als im Dezember. Allerdings steigen die Werte seit Tagen in den meisten Kreisen wieder an. Teils drastisch wie in Siegen-Wittgenstein, teils bleiben sie auf hohem Niveau relativ stabil wie in Hagen.
Drei Wochen vor Weihnachten waren im Regierungsbezirk Arnsberg 133 Corona-Todesfälle binnen sieben Tagen zu beklagen, der Wert stieg in den Folgewochen bis auf 177. In der vergangenen Woche wurden noch 70 Corona-Tote gezählt – deutlich weniger also.
Im Dezember gab es noch keine Impfungen, inzwischen sind Zehntausende geimpft – vor allem Bewohner von Alten- und Pflegeheimen und Über-80-Jährige. Allerdings: Bislang sind im Regierungsbezirk Arnsberg nur etwa 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft. Und der Astrazeneca-Stopp wird den Fortschritt bremsen.
Ein Argument für alle Einschränkungen ist: Das Gesundheitssystem darf nicht überlastet werden. Das konnte bislang in der Region immer verhindert werden, allerdings arbeiten die Krankenhaus-Mitarbeiter seit Monaten am Limit. Und eine wirkliche Entspannung im Vergleich zur Situation vor Weihnachten hat es in den meisten Kreisen bislang noch nicht gegeben. Wenn 25 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sind, dann gilt das als kritische Marke. Der Märkische Kreis lag vor Weihnachten nicht weit davon entfernt und liegt heute sogar leicht darüber.
So schätzen Experten die Lage zu Weihnachten ein
Führen diese Werte in einen neuen Lockdown? Experten bewerten das unterschiedlich. Professor Ulf Dittmer, der Chef der Virologie an der Uni-Klinik Essen, sagt unserer Zeitung: „Ich glaube, dass wir nicht wirklich wissen, wo wir in Deutschland derzeit stehen.“ Nur auf die Inzidenz zu schauen, sei zu wenig. Und der Blick auf Todesfälle und Covid-Patienen auf Intensivstationen sei als Steuerungsinstrument nur „bedingt tauglich“: Hier gebe es eine Verzögerung zum Infektionsgeschehen. „Deswegen ist es umso wichtiger, jetzt auch andere Parameter zu verfolgen.“ (siehe Hintergrund)
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Die Impfquote könnte solch ein Wert sein, sagt der Virologe Dittmer. Israel mit seiner hohen Impfquote habe es etwa geschafft, trotz einer Inzidenz von über 250 die Zahl der Covid-Krankenhausfälle um bis zu 95 Prozent zu senken. „Leider haben wir in Deutschland diese Impfquoten noch nicht erreicht“, so Dittmer. Daher wisse man derzeit nicht genau, inwiefern es bei uns schon eine Entkopplung von Neuinfektionen und schweren Fällen in Krankenhäusern und Praxen gebe.
Dr. Thorsten Kehe, Vorsitzender der Geschäftsführung der Märkischen Kliniken, zu denen das Klinikum Lüdenscheid mit vielen Covid-Patienten gehört, sagt dagegen: „Die dritte Welle ist auch bei uns angekommen.“ Sowohl in den Covid-Bereichen als auch auf der Intensivstation würden die Zahlen steigen. Bald werde man die Kapazitäten reduzieren müssen. Kehe: „Dadurch stehen uns weniger Betten für planbare Eingriffe zur Verfügung.“
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Der Mediziner warnt eindringlich vor Lockerungen: „Das Virus folgt biologisch-physikalischen Gesetzen, nicht dem Wunsch der Bevölkerung. Es besteht die Gefahr, dass wir die Kontrolle verlieren.“ Und mit Blick auf Ostern appelliert er, nicht nur auf gesetzliche Regelungen zu warten: „Jeder hat die Möglichkeit, sich selbst zurückzunehmen und sich weiterhin so zu verhalten, wie es während der vergangenen Wochen üblich war.“
Gaby Roth aus Siegen hat die Botschaft verstanden: „Ich habe dann Urlaub, aber wir bleiben zu Hause. Und wie wir das Osterfest feiern? Wohl wieder im kleinsten Kreise.“
>> HINTERGRUND: Andere Faktoren neben Inzidenzen
- Prof. Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie der Uni-Klinik Essen plädiert, nicht nur auf die Sieben-Tage-Inzidenz zu schauen. Es werde „wichtiger weitere Werte in Betracht zu ziehen, um die Lage in Deutschland besser einschätzen zu können. Dies wird um so wichtiger, je mehr die sozioökonomischen, psychologischen und medizinischen Schäden eines anhaltenden Lockdowns offenbar werden.“
- Besser geeignet als der Blick auf Todeszahlen und die aktuelle Belegung auf den Intensivstationen seien diese Faktoren: Gesamtzahl Covid-19 Patienten in Krankenhäusern und tägliche Aufnahmen. Milde und schwere Covid-Fälle in Pflegeeinrichtungen, die Altersverteilung bzw. das Durchschnittsalter der täglichen Neuinfektionen sowie nationale und regionale Impfquoten, speziell auch bei Über-70-jährigen.