Schwelm/Hagen. Die Gesundheitsämter bei der Kontaktverfolgung nicht überlasten, das ist ein Argument für den Inzidenz-Grenzwert 50. Doch die schaffen viel mehr.
Zwei Bildschirme hat sie vor sich, das Headset auf dem Kopf, Notizzettel mit positiven Fällen auf dem Schreibtisch: Janina Armborst (38) gehört zu denen, die das Coronavirus unter Kontrolle behalten. Sie arbeitet für das Gesundheitsamt des Ennepe-Ruhr-Kreises in Schwelm im Bereich der Kontaktnachverfolgung.
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Die Arbeit ist wichtig. So wichtig, dass sich die magischen Inzidenzzahlen, nach denen Lockerungen und Schutzmaßnahmen erlassen werden, nach ihr richten. Bei 50 oder mehr Neuinfektionen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohnern könnten die Gesundheitsämter im Land die Kontakte nicht mehr nachverfolgen, argumentiert Kanzlerin Angela Merkel. Aber: Stimmt das? Wie ist die Lage in den Gesundheitsämtern?
Von der zahnmedizinischen Fachangestellten zu „Nachverfolgerin“
Janina Armborst ist seit November Kontaktermittlerin. Sie hat zahnmedizinische Fachangestellte gelernt, arbeitete 18 Jahre lang in dem Beruf. Nun gehört sie zu den Dutzenden, die der Kreis eingestellt hat, um die viele Arbeit zu bewältigen, die spätestens mit der zweiten Welle kam. Ab November.
Zu jedem Fall wird eine Liste mit Kontaktpersonen erstellt. Die landet auch bei ihr: Die Selbstständige mit drei Kontakten. Der Erzieher aus der Kita mit zehn, fünfzehn oder zwanzig. „Wir hatten schon Tage, da flogen die Positivmeldungen nur so herein, der Drucker hörte nicht mehr auf zu drucken und ich dachte, dass das ein Harry-Potter-Band werden könnte“, sagt Armborst: „Aber auch an den Tagen haben wir die Kontaktverfolgung zeitnah realisieren können.“
Sind die Angeben vollständig?
Das Tempo, mit dem Fälle abgearbeitet werden können, hängt nicht nur von der Menge der Kontakte ab, sondern auch von der Vollständigkeit der Daten der Kontaktpersonen: Gibt es Namen und Telefonnummer? Wenn nicht: Ordnungsamt und Polizei anrufen, aber die können auch nicht immer sofort helfen. In einem anderen komplizierten Fall musste sie heute das Ergebnis eines Tests direkt aus dem Labor anfordern. Das kostet Zeit. Wichtig seien daher eine gute Organisation und Teamwork. Wenn es sich bei dem einen staut, kann der andere, der fertig ist, mit zugreifen.
„Ich kann nicht sagen, dass ich unangenehme Gespräche führe. Ich versuche, mich immer bestmöglich in meine Gesprächspartner hineinzuversetzen“, sagt Janina Armborst. Stressig sei das, klar, aber auch schön. „Es macht Spaß, den Menschen ihre Sorgen und Ängste zu nehmen, indem man sie über das weitere Vorgehen aufklärt.“
Was Janina Armborst aus ihrem ganz persönlichen Arbeitsalltag berichtet, ist durchaus repräsentativ für die Region. Denn unsere Zeitung hat die Gesundheitsämter in Südwestfalen befragt: Sind sie personell in der Lage, alle Infektionsketten nachzuvollziehen und Kontaktpersonen in Quarantäne zu schicken? Die einhellige Antwort: Ja, das ist möglich. Und das, obwohl die Inzidenzen derzeit überall über 50 liegen, teilweise sogar schon seit Wochen deutlich höher.
Inzidenz-Werte von 150 bis zu 200 machbar
„Aktuell schaffen wir die Kontaktnachverfolgung bequem bis zu einer Inzidenz von etwa 150, mit Anstrengung sogar bis 175“, so Clara Treude von der Stadt Hagen, die wochenlang NRW-weit die höchste Neuinfektionsrate vermelden musste. Sie ist deutlich gesunken, liegt aber weiter über 100. „Das Hagener Gesundheitsamt wird diese Woche ein personelles Konzept bis Jahresende aufstellen. Dabei werden steigende Fallzahlen berücksichtigt werden, so dass wir voraussichtlich zeitnah auch höhere Inzidenzen werden stemmen können.“
Ähnlich auch andere Rückmeldungen: Mit einer vollen Besetzung sei eine Rückverfolgung der Kontakte bis zu einer Inzidenz von 150 möglich, sagt der Ennepe-Ruhr-Kreis. Und der Hochsauerlandkreis kann verkünden, dass man selbst beim Inzidenz-Höchststand in der zweiten Welle, der bei 197 lag, noch immer in der Lage gewesen sei, die Kontaktpersonennachverfolgung zu gewährleisten. Ähnlich die Erfahrungen im Kreis Olpe: Auch bei einer Inzidenz über 200 habe man dies tagesaktuell geschafft.
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Aber das Sicherstellen der Kontaktnachverfolgung ist kein Wert an sich. Letztlich geht es darum, die Ausbreitung des Virus so einzudämmen, dass nicht so viele schwere Verläufe entstehen, dass das medizinische System überlastet wird. Nimmt man die Auslastung der Intensivstationen als Indikator, dann ist die Lage hier noch nicht kritisch. Als kritisch gilt, wenn mehr als 25 Prozent der verfügbaren Betten mit den besonders behandlungsintensiven Covid-Patienten belegt sind.
Aktuell ist dies nicht der Fall. Und auch in der gesamten zweiten Welle gab es keine Überlastung. Was die aktuellen Zahlen allerdings nicht beinhalten: Die individuelle Belastung des Personals auf den Intensivstationen und den Faktor, dass höhere Infektionszahlen oftmals erst mit einer Verzögerung von vier Wochen zu einem Anstieg der schweren Fälle auf den Intensivstationen führt.
Klinikzahlen werden wichtiger
Allerdings macht ein Experte Hoffnung: Prof. Ulf Dittmer, der Leiter der Virologie am Uniklinikum Essen. Im Podcast der Funke-Mediengruppe, zu der auch unsere Zeitung gehört, sagt er: „Wie viele sind auf den Intensivstationen? Das wird immer wichtiger zu beobachten. Denn, wie wir aus Israel wissen: Je mehr geimpft wird, desto mehr entkoppeln sich die Inzidenzwerte von dem, wie viele Menschen wirklich schwer erkranken. Viele Infektionen in Israel führen nicht mehr dazu, dass sie in Krankenhäusern landen, weil gerade viele ältere Menschen geimpft sind.“
Je mehr Menschen also geimpft sind, desto höhere Inzidenzen kann das medizinische System vertragen. Bis dahin bleibt aber die Arbeit von Janina Armborst, die die Kontakte beim Ennepe-Ruhr-Kreis verfolgt, so wichtig: „Es ist sehr viel Arbeit, aber auch die Masse können wir bewältigen. Natürlich gehört dazu, nicht um 18 Uhr den Stift fallen zu lassen, wenn noch was anliegt.“
>> HINTERGRUND: Ansteckungen meist im privaten Umfeld
- Wo gibt es die meisten Ansteckungen? „Hot Spots“ gebe es nur selten, so der Kreis Unna. Das Virus verbreite sich meist im privaten Umfeld. Ähnlich der Kreis Olpe und der Ennepe-Ruhr-Kreis: Meist geschehe die Ansteckung im familiären Umfeld. Im Hochsauerlandkreis führen aktuell mehrere Ausbrüche in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu höheren Werten.
- Das Gros der Ansteckungen habe sich im privaten Bereich ergeben, sagt die Stadt Hagen. Mit der britischen Mutante sei es aber auch vermehrt zu Ausbrüchen in Firmen, Krankenhäusern und Pflegeheimen gekommen.