Menden/Soest. Zwei Nachbarkreise, zwei Händler und der Corona-Lockerungsplan: Warum Evi Kissing in Menden verzweifelt und Max Wendrich in Soest frohlockt.

Bis tief in die Nacht hinein ist Evi Kissing wach geblieben und hat sich angeschaut, was es anzuschauen gab an Nachrichten. Nachrichten über mögliche Lockerungsszenarien während der Corona-Pandemie, die Leute wie Evi Kissing an den Rand der Insolvenz führt. Auf dem Schreibtisch liegen die dicken Rechnungen der vergangenen Tage, die die Inhaberin des Kindermodeladens „Engel & Rabauken“ nicht bezahlen kann.

Ihr Laden liegt in Menden, einer Stadt im Märkischen Kreis, der in Nordrhein-Westfalen mit 119,2 den aktuell höchsten Inzidenzwerte aufweist. Dieser Wert entscheidet nach den neuesten Beschlüssen mehr denn je über Öffnung oder Schließung von Läden. „Wenn man diesem Wert alles unterordnet, muss einem klar sein, wovon meine Zukunft abhängt“, sagt Evi Kissing: „Unter anderem von Menschen, die die notwendigen Maßnahmen ignorieren. Das ist richtig bitter.“

Ab einem Inzidenz-Wert von 100 geht fast gar nichts

Eines ist nach dem Treffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel klar: Bei einem konstanten Inzidenz-Wert unter 50 sind recht rasch viele Lockerungen möglich, bei einem Wert zwischen 50 und 100 zumindest einige. Ab 100 aber fast gar nichts. Was zunächst unklar war: Welche Gebiete bilden nun Schicksalsgemeinschaften? Sind es einzelne Kreise, die je nach ihrem individuellen Inzidenzwert eigene Öffnungsstrategien verfolgen können? Oder ganz NRW, weil der landesweite Wert ausschlaggebend ist?

Das NRW-Gesundheitsministerium weiß darauf noch keine Antwort. Man sei noch in der Abstimmungsphase, heißt es. Aber durchgesickert ist: Der NRW-Wert wird wohl maßgeblich sein, allerdings müssten Corona-Hochburgen wie Hagen oder der Märkische Kreis „Hotspot-Strategien“ mit dem Land aushandeln.

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So oder so bergen beide Varianten Sprengstoff. In dem einen Szenario treten die Kreise gegeneinander in Konkurrenz: Evi Kissing müsste Stand jetzt ihren Laden geschlossen halten, während im Nachbarkreis Soest – dessen Wert am Donnerstag zwar bei 63, zuletzt aber stabil um die 50 lag – die Einzelhändler unter Auflagen öffnen dürften. Oder aber – Szenario zwei – ganz NRW schaut pikiert auf die Problemkinder im Land wie Hagen, Solingen oder eben den Märkischen Kreis, die mit Inzidenzen über 100 den Mittelwert in die Höhe drücken und zum weiteren allgemeinen Lockdown führen. „Das ist ungerecht. Ich fühle mich alleingelassen“, sagt Evi Kissing.

Kundschaft mit festem Termin - das wird ab Montag möglich sein

Max Wendrich Jr. ist Elektrohändler in Soest. Er klingt deutlich entspannter. „Ich finde die Beschlüsse schon gut, es sind kleine Schritte nach vorne, die eine Perspektive geben“, sagt er. Er darf ab kommendem Montag Kunden mit einem fest gebuchten Termin einzeln in seinen Laden lassen. Und wenn die Inzidenz wieder unter 50 fällt, sogar ohne Buchung. So wie es in Münster möglich ist, wo die Inzidenz noch geringer ist. Dort macht man sich andere Gedanken: Zum Beispiel über das Risiko eines sich möglicherweise entwickelnden Shopping-Tourismus. Den gäbe es sicher auch in Soest, wenn es käme wie skizziert.

Max Wendrich Junior - Geschäftsführer von Elektro Wendrich in Soest.
Max Wendrich Junior - Geschäftsführer von Elektro Wendrich in Soest. © Westfalenpost | Elektro Wendrich

„Wir würden uns auch darüber freuen, wenn wir Kunden aus den anderen Kreisen begrüßen können, wo die Inzidenzwerte noch höher sind. Wenn der jeweilige Kreis das zulässt, halte ich das für legitim, auch wenn das für einen Flickenteppich sorgen wird“, sagt Wendrich: „Jeder Kunde hat aber heutzutage die Möglichkeit sich zu informieren, wann er wo einkaufen kann. Einen Mittelwert in NRW halte ich für unangebracht.“

Landrat des Märkischen Kreises fürchtet keinen Einkaufstourismus

Ob „seine“ Bürger jetzt tatsächlich zu Einkaufstouristen werden könnten, weiß Marco Voge nicht. Er ist der Landrat des Märkischen Kreises, hat mit seiner Verwaltung seit Tagen mit den NRW-weit höchsten Inzidenz-Werten zu kämpfen, und setzt dabei auf die Vernunft: „Die Menschen dürfen sich selbstverständlich auch weiterhin frei bewegen. Sie verhalten sich aus meiner Sicht in der großen Mehrheit sehr verantwortungsbewusst, meiden unnötige Fahrten, Reisen und Kontakte.“

Die aktuell hohe Inzidenz sei selbstverständlich nicht schön, sagt Voge, resultiere aber weiterhin vor allem in lokalen Ereignissen. Und nein, er glaube nicht, dass der Märkische Kreis nun unter besonderem Druck und Beobachtung stehe, weil die hohen Inzidenzzahlen auch Einfluss auf den Gesamtwert für Nordrhein-Westfalen haben und somit auf weitere generelle Lockerungen im Land. „Es wäre falsch, die Kreise gegeneinander auszuspielen“, so der Landrat. „Das Gegenteil ist der Fall. Die Kreise arbeiten sehr gut miteinander für die gemeinsame Anstrengung und das gemeinsame Ziel, die Pandemie zu besiegen.“

Marco Voge (CDU), der Landrat des Märkischen Kreises. 
Marco Voge (CDU), der Landrat des Märkischen Kreises.  © IKZ | Michael May

Was denn nun genau auf den Märkischen Kreis, seine Bürger, und seine Einzelhändler wie Evi Kissing zukommen wird und was denn nun der „Hotspot-Kreis“ mit dem Land an besonderen Regelungen ausverhandeln muss – das alles kann Marco Voge noch nicht sagen. Die neue Coronaschutzverordnung liege ja noch nicht im Wortlaut vor. „Wie bei den Maßnahmen zwischen den Kreisen unterschieden wird, wird sich zeigen.“

Gefahr für die Innenstädte

Evi Kissing hofft indes, dass wenigstens Einkaufen mit Termin selbst bei einer Inzidenz von mehr als 100 möglich sein wird, sie ihren Laden ein bisschen öffnen kann. „Das würde ich begrüßen, das würde den Einkaufstourismus unterbinden“, sagt sie. Seit sieben Jahren hat sie ihren Laden. Viel Liebe steckt darin. „Über die Möglichkeit, ihn aufzugeben, mag ich gar nicht nachdenken“, sagt sie. Das Textilgeschäft unterliege noch einmal anderen Gesetzen als der Rest der Branche. Saisonware müsse ein Jahr im voraus bestellt – und dann auch verpflichtend abgenommen werden. Kosten insgesamt: rund 60.000 Euro pro Saison, 120.000 Euro pro Jahr. Das sind die Rechnungen, die sie gerade bekommt, die sie nicht bezahlen kann, wenn sie den Laden nicht wenigstens teilweise öffnen kann.

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„Mit dem Beschluss wird das Sterben der Innenstädte noch einmal beschleunigt“, sagt sie. Wenn wirklich der Inzidenzwert der Kreise herangezogen werde, dann wisse sie nicht, wann ihr Laden – oder jeder andere vor Ort – wieder geöffnet werden könnte. Und ob er dann nicht bald wieder zuschließen müsse. Ein einziger Ausbruch an einer Schule, in einem Pflegeheim, in einer der großen Firmen im Kreis reiche, um das herbeizuführen. „Und von den großen Firmen haben wir viele im Kreis.“