Netphen. Der Architekt, der seinen Schuh nicht mehr findet und vieles mehr. Demenz-Stationen gelten als Corona-Risiko-Orte. Besuch in einer anderen Welt.
Neben der Zimmertür hängt ein hölzerner Setzkasten an der Wand. Zwei Plastik-Kühe stehen da drin, ein Skifahrer, das Foto eines Berges. Der Mann, der hier lebt, war früher Werkzeugmacher. Er liebte die Berge, das Skifahren. Die Sehnsucht dahin ist geblieben. Wenn er die Berge und die Kühe sieht, dann weiß er, dass das hier sein Zimmer ist, wenn er es mal nicht findet. Das wäre keine Seltenheit hier im Haus St. Anna in Netphen, einem Pflegeheim ausschließlich für Menschen mit Demenz. An Orten wie diesen ist die Gefahr besonders groß.
Beim Personal ist die Angst ist immer da
Wochenlang sind die Infektionszahlen mit dem Coronavirus gestiegen. Lokale Ausbrüche treiben die Inzidenzwerte in den Städten und Kreisen in die Höhe. Und hinter den lokalen Ausbrüchen stecken oft die Pflegeheime, in denen die Alten und Gebrechlichen geschützt werden sollen, aber offenbar nicht geschützt werden können. Der Werkzeugmacher lehnt an der Wand auf dem Flur und schaut zwei Männern zu, die gerade eine der Eingangstüren reparieren. Mit einem metallenen Geräusch schwingt sie aus dem Schloss. Der Alarm schrillt los. Rot blinkt das Licht. Niemand darf hier rein oder raus, ohne dass es jemand mitbekommt. Aber gegen das Coronavirus hilft keine Tür, kein Alarm. „Die Angst ist immer da“, sagt Stephan Berres (54), der Einrichtungsleiter, der in seinem Büro Schalke-Fahne, Schalke-Keksdose, Schalke-Gartenzwerg und Schalke-Bilder auf einem Schrank ausstellt. Auf seinem Tisch liegen Servietten. „Schön, dass du da bist“ steht darauf. Das ist ihm wichtig, so behandelt er die Menschen, vor allem die, die im St. Anna zu Hause sind. „Wir müssen uns in deren Welt zurechtfinden, nicht andersherum“, sagt er. Berres will, dass es allen gut geht. „Wenn wir hier einen Fall hätten, dann hätten wir vielleicht das ganze Haus infiziert.“
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Demenz-Wohngruppen sind ein Sonderfall. Dort ist die Gefahr durch das Virus am größten. Es kann sich ungebremst ausbreiten, weil ihre Bewohner zumeist nichts wissen von diesem Virus, von der Pandemie, von der Gefahr. Und wenn, dann vergessen sie das Meiste auch wieder. „Die Menschen hier haben keine Angst“, sagt Berres und es klingt wie Trost und Trauer zugleich.
Ein Schuh steht mitten im Flur. Der Mann, der als Architekt früher Häuser entworfen hat, sucht schon seit einigen Minuten seinen zweiten Schuh. Er findet ihn nicht, nimmt einen anderen aus dem Schuhregal. Eine Frau geht die Flure auf und ab. Sie trägt Daunenjacke, sie muss ja auch raus, weil sie berufliche Termine hat. Eine andere Dame trägt den ganzen Tag eine Puppe bei sich, die beiden machen ein Schläfchen im Sessel vor dem Fernseher. „Wenn die Bewohner irgendwo einschlafen, zum Beispiel auf den schönen Sofas, dann lassen wir sie weiterschlafen. Ich würde auch nicht geweckt werden wollen“, sagt Berres.
Das fremde Gebiss wird genommen
Menschen mit Demenz haben einen hohen Bewegungsdrang, woran das liegt, ist medizinisch noch nicht eindeutig geklärt. Manchmal werden sie nachts wach und hätten gern Frühstück. Manchmal legen sie sich schlafen in einem Bett, das nicht ihres ist. Manchmal nehmen sie sich dann auch das Gebiss, das nicht ihnen gehört. Alles schon dagewesen. Corona gibt es hier nicht, nicht einmal als bloße Sorge. Zumindest nicht bei den Bewohnern.
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„Gerade am Anfang sind wir bei jedem Husten, bei jedem Symptom zusammengezuckt“, sagt Ann-Kathrin Müller, die Pflegedienstleiterin. „Aber wir können die Menschen ja nicht einsperren.“ Sie trägt die Sorge um die Bewohner stets bei sich. „Man überlegt sich dreimal, wen man selbst in seiner Freizeit trifft.“ Denn in St. Anna gelten andere Regeln. Abstand ist hier schwer. „Das hier geht nur mit Nähe“, sagt die 32-Jährige. Mal eine Umarmung, mal ein Händchenhalten, das gebe den Bewohnern viel.
Müller und ihre Kolleginnen tragen FFP2-Masken bei der Arbeit, jeder von ihnen wird zweimal in der Woche einem Corona-Test unterzogen. Sie reinigen zwischendurch die Handläufe und Flächen mit Desinfektionsmittel, sie messen den Bewohnern täglich die Temperatur, sie achten bei ihnen noch mehr auf mögliche Symptome. Anderthalb bis zwei Vollzeitstellen an Zeit kostet das in der Woche, hat Berres ausgerechnet. Jeder Besucher muss seit vielen Wochen einen Schnelltest am Eingang machen, dessen Ergebnis über Zutritt oder Verbot entscheidet. Die Bewohner werden einmal in der Woche getestet, je nach Kooperationsgrad. Und doch: Der unsichtbare Feind könnte stets und immer schon vor der Tür stehen. Die Schnelltests verringern das Risiko, aber hundertprozentig zuverlässig sind sie nicht. Am Ende, sagt Berres, habe es – so furchtbar das klinge – auch ein bisschen mit Glück zu tun, ob es das Virus ins Haus schaffe oder nicht.
Ausbruch wäre Albtraum
Viele hatten kein Glück. Die Schlagzeilen von den schlimmsten Fällen aus dem vergangenen Jahr hallen noch nach: Wolfsburg mit fast 50 Toten im vergangenen Jahr, Fröndenberg und Herdecke mit mehr als 20 Toten im vergangenen Jahr. Die Liste ließe sich fast endlos fortführen. Immer neue Häuser in immer neuen Städten und Kreisen, die in den letzten Wochen durch die Nachrichten geistern: Hagen, Gelsenkirchen, Kreis Olpe.
Bei Berres und Müller zieht sich der Magen zusammen. Weil das der Albtraum wäre. Aber nicht nur deswegen. „Mich macht das nachdenklich und ich begleite das mit einem Kopfschütteln“, sagt der Einrichtungsleiter. Er hat das Gefühl, dass mit dem Finger auf die Pflegeheime gezeigt werde. „Erst wurde auf Balkonen für die Pflegekräfte geklatscht – und nun muss ich überall lesen, dass die Leute sich fragen, wie Corona in die Einrichtungen gelangen könne. Wie das denn wohl passieren könne. Als wenn wir nicht verstanden hätten, worum es geht.“
Er legt die Stirn in Falten, er kennt die Branche seit 37 Jahren und seitdem sei so gut wie keine politische Entscheidung getroffen worden, die die Arbeit leichter mache. Knappe Kassen, knappes Personal, ein wachsender Berg an Arbeit. Dort soll noch mehr Arbeit geleistet werden? Soll eine Schutzmauer hochgezogen werden? Das St. Anna ist bislang verschont geblieben.
Vor einigen Tagen sind die Bewohner ein zweites Mal gegen das Coronavirus geimpft worden. Der Schutz setzt erst nach acht bis zehn Tagen ein. Sie hoffen, dass nichts mehr dazwischen kommt. Aber die Maßnahmen bleiben. Da wo Menschen zusammen leben, sich begegnen, sagt Stephan Berres, könne es keine absolute Sicherheit geben.
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