Hagen. Reporter Daniel Berg hat sich zu Beginn der Corona-Pandemie Zuversicht geschworen. Doch sie kostet mehr und mehr Kraft.

Ich soll, ich muss, ich will diesen Text schreiben. Seit Tagen schon. Aber es ist nicht leicht, wirklich nicht. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, erneut. „Papa, wo ist meine Trinkflasche“, fragt der Große, elf Jahre, während er auf der Couch sitzt. Er müsste sie sehen, sie steht auf dem Tisch, zwei Meter entfernt. Ich verstehe nicht, dass er sie nicht sieht, dass er mich fragen muss, wo ich doch arbeiten muss. Und müsste er nicht eigentlich in einer Video-Konferenz für die Schule sein und nicht auf sein Handy gucken? Meine patzige Antwort macht ihn wütend.

Der ganz normale Wahnsinn beim Homeschooling und im Homeoffice

Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen zu diesem ganz normalen Wahnsinn, den ich nicht mehr ertrage. Meine Geduld endet, jeden Tag etwas mehr.

„Oh nein“, sagt die Kleine, acht Jahre alt. Sie hat ihren Getränkebecher umgestoßen, die Lache auf dem Tisch breitet sich aus. „Warum passiert dir das immer?“, erhebe ich die Stimme. Ich schimpfe, weil ich nicht anders kann, obwohl ich es besser weiß. Weil ich genervt bin, weil mich alles nervt. Ich kann das nicht mehr lang, denke ich. Die Tochter weint. Ich fühle mich schlecht.

Vater-Versager.

Text-Versager.

Es sind nur 60 Sekunden aus meinem derzeitigen Leben, aber sie stehen für so viele weitere Momente, in denen mich die derzeitige Lage aus dem Gleichgewicht bringt. Homeschooling, Home-Office, zu Hause sein. Immer. Ich gehe meiner Frau auf die Nerven, wenn sie von ihrem systemrelevanten Job wieder da ist.

Corona-Pandemie: Die wahren Dramen passieren woanders

Völlig klar: Die wahren Dramen spielen sich woanders ab. Auf den Intensivstationen, auf denen schwer am Coronavirus erkrankte Menschen liegen. In den Kneipen, Restaurants, Hotels, Kinos und Theatersälen, in den Friseursalons, Nagelstudios und Selbständigenbüros, in den Innenstädten, an den Flughäfen und Produktionsbändern der Republik, wo allesamt Menschen um ihre berufliche Existenz fürchten – wenn es denn überhaupt noch etwas gibt, um das die Menschen fürchten können. In den Wohnungen von Alleinerziehenden und Singles, in den Jugendzimmern derer, die nun ihre Abschlüsse machen und keine Perspektive sehen.

Ich bewundere all jene für ihre Kraft, für ihre Geduld. Ich weiß: Es gibt Millionen Schicksale, die schwerer wiegen als meines, das aber dem von vielen Millionen anderen gleicht.

Der Kopf sagt mir: Sei demütig, beschwere dich nicht, denke an jene, die das alles wirklich hart trifft. Oft hilft das, aber nicht lang. Und dann frage ich mich: Darf ich mich wirklich nicht beschweren, weil es anderen schlechter geht? Darf ich nicht für mich feststellen, dass meine Zuversicht schwindet? Dass ich die getroffenen Maßnahmen zwar richtig finde und befolge, sie aber trotzdem mehr und mehr in Frage stelle, weil mir ihre Dimensionen erst jetzt so richtig klar werden.

Mutationen und keine Perspektive: das nagt an mir

Dass mein Nervenkostüm so ausdünnt, trifft mich unvorbereitet. Aber diese Gereiztheit schlich sich spätestens in den kalten, dunklen Januartagen in mein Gemüt, während die spätmorgendliche und frühabendliche Dunkelheit nur von tristem Mittagsgrau unterbrochen wird.

Mein Leben spielt an einem 90 Zentimeter breiten Tisch, an dem ich frühstücke, arbeite, zu Mittag esse, arbeite, zu Abend esse. Mittlerweile ist es Februar. Immerhin: Schnee liegt. Eine Abwechslung. Aber eine wirkliche Perspektive gibt es nicht. Etwas, auf das man sich gerade uneingeschränkt freuen könnte.

Deutschland impft zu langsam, die Mutationen sind längst bei uns und keiner weiß, was das mit dieser Pandemie machen wird. Beginnt alles wieder von vorn, wenn die britische Variante so richtig durchschlägt?

Die Menschen geraten in Streit über das Für und Wider des Lockdowns. Und mittendrin hängt einer wie ich, der das Ergebnis der Maßnahmen zunehmend unzumutbar findet, aber auch nicht vermessen genug ist, um zu glauben, bessere Lösungen gehabt zu haben als diejenigen, die entscheiden mussten, als es drauf ankam. In der Haut derer wollte ich nicht stecken. Das Geschrei aller Seiten macht mich nur noch müde. Ich will, dass das alles bald vorbeigeht.

Aber wird es das?

Und wenn ja wann?

Der erste Lockdown war anders

Der erste Lockdown war anders: Der hatte bei aller Ungewissheit und Sorge auch etwas von Abenteuer, von Klassenfahrt, von Solidarität und Gemeinsinn. Motto: Wir schaffen das. Junge Menschen gingen für ältere einkaufen. Die Sonne schien dazu. Es war erzwungene Entschleunigung, die man durchaus sympathisch finden konnte, während man mit den Kindern Mau-Mau spielte und lernte, seine neu gewonnene Zeit sinnvoll zu nutzen, um mal mehr Sport zu machen oder mehr spazieren zu gehen.

Für Sport ist es jetzt zu kalt und zu dunkel, zumindest wenn man keine eiserne Disziplin hat. Und spazieren rund ums Zuhause nervt auch, obwohl es oft das Tageshighlight ist. Und wer mir jetzt noch mit der Entschleunigungsnummer kommt, der muss mit wenig wohlwollenden Reaktionen rechnen.

Nicht jeder Tag ist gleichermaßen nervig: Es ist eher eine kleine Dosis Gift, die sich – Tag für Tag verabreicht – irgendwann bemerkbar macht. Wenn die Frau morgens um 7 Uhr das Haus verlässt, dann beginnt regelmäßig der Irrsinn. Dann bereiten wir das Homeschooling vor, dann streikt der Drucker, dann fällt das WLAN aus, dann hat die Kleine Fragen zu den Hausaufgaben und der Große zu was anderem, dann wartet die 10-Uhr-Redaktions-Konferenz und irgendwann muss es zumindest so etwas ähnliches wie Mittagessen geben. So geht das die ganze Zeit.

Inseln des Glücks: unerreichbar weit weg derzeit

Alles begleitet von dem Gefühl, dass das nicht genug ist, dass man mehr für die Arbeit leisten müsste und noch viel mehr für die Kinder, um die sich die Psychotherapeuten des Landes – ganz allgemein – große Sorgen machen, und von denen ich hoffe, dass sie in der Schule wieder mitkommen mögen, wenn sie wieder geöffnet wird. 2024 vielleicht. Sarkasmus. Hilft. Manchmal.

Ich schaffe mir gern Inseln: Inseln des Glücks. Ein geselliger Abend mit Freunden, das Fußball-Training, der Restaurantbesuch. Dinge, auf die man sich freut, wenn der Tag oder die Woche beginnt. Dinge, die den manchmal anstrengenden Alltag auch wieder zu Inseln des Glücks machen. Selbst wenn mein Leid weniger schwer wiegt als das eines anderen, ist es ja doch da. Ich traue mich, das zu schreiben, weil es vielen Menschen so geht. Denen zumindest, die ich spreche. Menschen, die voller Optimismus waren und konsequent genug, sich vieles zu versagen in dem Wissen, dass jeder einzelne eine gesellschaftlich wichtige Rolle erfüllen muss. Sie werden das weiterhin schaffen, so wie wir hier auch: Aber wie lang noch? Und zu welchem Preis?