Siegen. Zu viel Medienzeit, Gewichtszunahme, Waschzwang: Kinder und Jugendliche leiden im zweiten Lockdown stark. Doch Hilfsangebote sind rar.

Ein Szenario wie derzeit hat Nina Aulmann nach 15 Jahren im Beruf noch nicht erlebt. "Es findet vielerorts eine Degeneration der Kinder statt. Das ist beispiellos", sagt die Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in Siegen. "Jeden Tag bekomme ich Mails mit Hilfegesuchen. Freie Therapieplätze sind Mangelware und mehr als dringend notwendig." Dramatisch für all jene, denen die Corona-Pandemie und ihre Folge in den eigenen vier Wänden über den Kopf wachsen. Und das sind viele.

Maximale Belastung in den Familien durch Home-Office und Home-Schooling

"Seit dem zweiten Lockdown kann ich einen exorbitanten Zuwachs erkennen", sagt Aulmann. "Die Familien sind maximal belastet durch Home-Schooling und Home-Office. Durch das ständige Aufeinanderhocken entstehen einerseits deutlich mehr Konflikte innerhalb der Familien und andererseits zunehmend depressive Verstimmungen bei Kindern und Jugendlichen."

Sie erlebt Jugendliche, die keine Strukturen mehr kennen, die sich an keine Regeln mehr halten, die keine Leistungen mehr erbringen wollen oder können, die bis 6 Uhr morgens Computerspiele zocken und um 16 Uhr aufstehen. Kinder, die an Gewicht zunehmen, weil sie zu viel fernsehen oder daddeln und sich zu wenig bewegen, die frustriert sind, weil es zu Konflikten zu Hause kommt. Kinder und Jugendliche, die depressiv werden oder zumindest depressive Tendenzen aufweisen. Andere Psychotherapeuten berichten von Kindern, die einen Waschzwang entwickeln, die sich 20, 30 Mal am Tag die Hände waschen.

Sprunghafter Anstieg der Patientenzahlen in NRW

Bernhard Moors hat seine Praxis in Viersen am Niederrhein. Er ist Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer in NRW - und bestätigt den Trend in größerem Zusammenhang. "Seit etwa Oktober, November sind die Patientenzahlen sprunghaft gestiegen. Und zwar in einer Art und Weise, die ich und alle, mit denen ich spreche, so noch nicht erlebt haben“, sagt der 64-Jährige. „Es zeichnet sich ein alarmierendes Bild der psychischen Belastungen in der Corona Pandemie ab."

Daraus resultiert ein Behandlungsproblem. Psychotherapeuten gibt es ohnehin schon zu wenige. "In der Regel sollten Patienten innerhalb von bis zu zwölf Wochen einen Kontakt zu einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bekommen können. Die Wartezeit hängt sehr von der Psychotherapeutendichte ab und diese ist in den Regionen sehr unterschiedlich." Es lägen keine Statistiken über die aktuellen Durchschnittswartezeiten vor, "aufgrund der Pandemie ist aber mit höherer Wartezeit zu rechnen“, sagt Moors.

Im Sauer- oder Siegerland sind Hilfsangebote rar

In Städten wie Köln oder Münster, sagt Moors, gebe es im Vergleich zur Bevölkerung viele Psychotherapeuten. In eher ländlichen Gebieten wie dem Sauer- oder Siegerland sei das anders. Heißt: Nicht jeder, der schnell Hilfe braucht, bekommt diese im benötigten Maße.

Ein Eindruck, den Dr. Burkhard Lawrenz teilt. Beim Kinder- und Jugendarzt aus Arnsberg, stellvertretender Vorsitzender des Berufsverbandes in Westfalen-Lippe, melden sich ebenfalls vermehrt Kinder mit psychischen Leiden. Er und seine Kollegen merken, "dass wir immer mehr Schwierigkeiten haben, einen Therapeuten zu finden, der keine monatelangen Wartezeiten hat. Die meisten sind langfristig ausgebucht, was auch kein Wunder ist: Die Psychotherapeuten und Psychologen haben ja auch vor der Pandemie schon an der Belastungsgrenze gearbeitet.“

Experte: "Das ganze Ausmaß der Katastrophe wird erst in einigen Monaten sichtbar"

Besserung ist nicht in Sicht. "Die Kontaktbeschränkungen führen bei Kindern und Jugendlichen zu Entwicklungsproblemen, die sich erst im Laufe der Zeit bemerkbar machen. Das ganze Ausmaß der Katastrophe wird erst in einigen Monaten sichtbar werden", sagt Moors.

Nina Aulmann, die Psychotherapeutin aus Siegen, ist der gleichen Meinung. "Das dicke Ende kommt erst noch", sagt sie. "Kinder brauchen Struktur, soziale Kontakte und Bewegung. Sie gewöhnen sich aber auch schnell an die mangelnden Strukturen und Anforderungen. Deswegen glaube ich: Wenn das nicht schnell endet, werden wir bald noch viel mehr depressive Kinder und Jugendliche haben." Und dann? "Im absoluten Notfall, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, dann sind die Kliniken zuständig", sagt Aulmann.

Langzeitstrategie für Kinder und Jugendliche fehlt

Eine Klinik, wie sie Professor Oliver Fricke, Leitender Arzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, leitet. Er hat einen etwas anderen Blick auf die Entwicklungen. Der Bedarf an stationärer Behandlung für Grundschulkinder - vor allem Jungen - sei "in vielen Kliniken gesunken", sagt Prof. Fricke. „Meine Vermutung ist, dass durch die Distanz zur Schule diese Probleme im Moment nicht so im Vordergrund stehen, da die Dekompensation im Verhalten vor allem im Rahmen der Schule zu beobachten ist und diese derzeit nicht stattfindet. Ich denke, dass diese Kinder aktuell mit dem Gebrauch von Medien zu Hause ,stillgestellt' sind und schlagartig eine Notwendigkeit nach Versorgung wieder da ist, wenn die Schule wieder Präsenz erfordert.“

Der Blick in die Zukunft? Verheißt nicht viel Gutes. Zumal sich Bernhard Moors in der Gegenwart schon mehr Aufmerksamkeit für die Kinder und Jugendlichen wünschen würde. Ihm fehlt in der Politik „eine Langzeitstrategie“ und Mitsprachrecht von entsprechenden Experten in den politischen Entscheidungsgremien. „Jetzt schon müsste dort überlegt werden, welche Angebote geschaffen werden, wenn die Pandemie vorbei ist, um erlittene Nachteile zum Beispiel beim Thema Bildung bestmöglich ausgleichen zu können.“

<<< 5 TIPPS FÜR ELTERN >>>

Der Experte rät, was zu tun ist, um Kindern auch in der Corona-Krise einen gesunden Alltag zu bescheren.

-> 1.) Die Tagesstruktur der Kinder erhalten oder aufbauen. Heißt: Ab 8 oder 9 Uhr so lange mit Schulstoff beschäftigen, wie das sonst auch der Fall wäre.

-> 2.) Viel Bewegung, am besten an der frischen Luft. „Das hilft immer“, sagt Bernhard Moos von der Psychotherapeutenkammer NRW.

-> 3.) Mit den Kindern über Corona sprechen und ihre Fragen beantworten, eigene Unsicherheiten aber ehrlich einräumen. „Was man nicht weiß, kann man nicht beantworten. Aber reden erleichtert die Situation für alle“, sagt Moors.

-> 4.) Kontakt mit anderen Kindern oder Jugendlichen in dem Maß, in dem es die Coronaschutzverordnung zulässt. „Für Kinder und Jugendliche sind Kontakte zu Gleichaltrigen enorm wichtig. Sie orientieren sich am Verhalten anderer, erfahren so wichtige Reaktion auf ihr eigenes Verhalten.“

-> 5.) Jedes Kind ist anders, daher müssen Eltern ausprobieren, was ihren Kindern bekommt und was nicht. „Zu viel Medienzeit ist natürlich schlecht, aber derzeit alles immer zu verbieten und den Kindern zu sagen, dass sie doch jetzt mal still sein sollen, ist auch nicht der richtige Weg.“