Bochum/Hagen. Staatsanwälte ermitteln gegen Arzt, der ohne medizinische Notwendigkeit Schüler von Maskenpflicht befreit haben soll. Wie groß ist das Problem?

Er spricht von einer „Hygiene-Dikatur“ und der Maskenpflicht als „politischem Verbrechen“: Die Staatsanwaltschaft Bochum hat am Mittwoch die Praxisräume eines Bochumer Hausarztes durchsuchen lassen, der im Verdacht steht, ohne medizinische Notwendigkeit pauschale Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht ausgestellt zu haben. Gegen den Mediziner wird wegen der „Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ ermittelt, ein Straftatbestand , der mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe geahndet werden kann.

In Gang gekommen sind die Ermittlungen unter anderem durch Hinweise aus Hagen. Der Bochumer SPD-Landtagsabgeordnete Karsten Rudolph hatte durch private Kontakte von der Leiterin einer weiterführenden Schule in Hagen gehört, dass bei ihr gleich mehrere Atteste vorgelegt worden waren, die Schüler von der Maskenpflicht befreien sollten. Alle ausgestellt von einem Bochumer Arzt.

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Rudolph machte sich in seiner Wahlkreis-Stadt schlau und stieß schnell darauf, dass dieser Bochumer Arzt Unterstützer eines Vereins namens „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“ (MWGFD) ist , der von Kritikern der Hygiene-Maßnahmen gegründet wurde. In einem Blog im Internet spricht sich der Arzt für ein eine Beendigung der Maskenpflicht und für einen Stopp der Corona-Testungen aus.

Zahlreiche Unterlagen in der Praxis beschlagnahmt

Er soll, wie andere Mediziner auch, auf der Seite des Vereins als ärztlicher Kontakt genannt worden sein, um an ein Attest für eine Befreiung von der Maskenpflicht zu gelangen. Der entsprechende Link wurde mittlerweile gelöscht. Bei der Durchsuchung der Praxisräume des Bochumer Mediziners am Mittwoch wurden nach Angaben der Bochumer Staatsanwaltschaft zahlreiche Unterlagen sichergestellt, die jetzt ausgewertet werden. Ermittelt werde auch, ob der Arzt, die Ausstellung der Atteste unrechtmäßig abgerechnet habe, so ein Sprecher der Behörde.

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Der Mediziner geht auf Anfrage der WESTFALENPOST nicht auf die Ermittlungen ein. Er spricht nur allgemein davon, dass Mediziner von Ärztekammern und Staatsanwaltschaften unter Druck gesetzt würden, nennt die Corona-Pandemie einen „Grippewelle“ und verteidigt die Atteste: „Es gibt diverse schwerwiegende Gründe, die Patienten berechtigen, ohne Maske in der Öffentlichkeit aufzutreten. Aber die Regierung macht massiv Druck, stellt dauernd Strafanzeigen, fordert zu Denunziation und Bespitzelung auf, lässt die Polizei rechtswidrig Atteste einbehalten und fördert Streit und Zank in den Schulen.“ Es gebe Kinder, die blau anlaufen würden, sich übergeben müssten und dem Unterricht nach der Befreiung von der Maskenpflicht mit dem Gesicht zur Wand stehend folgen müssten.

NRW-Regierung sieht keine direkte Handhabe

Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen waren unter anderem durch eine kleine Anfrage des SPD-Politikers Karsten Rudolph an die NRW-Landesregierung zu den Hagener Fällen und die Berichterstattung darüber in Gang gekommen: Was die Regierung gegen Ärzte unternehme, die ohne Konsultation Atteste ausstellten, wollte Rudolph wissen. Das Landesgesundheitsministerium habe keine Möglichkeit „unmittelbar gegen Ärzte vorzugehen“, hieß es in der Antwort. Jedoch habe man die Ärztekammern als Berufsaufsicht aufgefordert, solche Mediziner anzuschreiben. Dies hatten die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe auch getan. Auch der Bochumer Arzt war wohl bereits von der zuständigen Ärztekammer Westfalen-Lippe angeschrieben und aufgefordert worden, zu erklären, auf welcher Grundlage er die Atteste ausgestellt habe. Eine inhaltliche Antwort soll der Mediziner verweigert haben.

Unterschiedlicher Informationsstand in der Landesregierung

Während das Gesundheitsministerium also von der generellen Problematik weiß, ist das im NRW-Schulministerium offensichtlich nicht der Fall. „Dem Ministerium liegen dazu keine Hinweise vor“, heißt es aus Düsseldorf auf die Frage, ob einzelne Ärzte vermehrt Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht ausstellen würden. Für den SPD-Abgeordneten Rudolph schwer nachvollziehbar: „So etwas muss doch zwischen den Ressorts abgestimmt werden.“

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Er hofft durch seine Anfrage für mehr Problembewusstsein zu sorgen: „Es muss auch für alle Bereiche außerhalb der Schulen klar sein, wer solche Atteste unter welchen Bedingungen ausstellen darf. Es kann nicht sein, dass der, der die Maske einmal vergisst, ein Bußgeld zahlen muss – es aber auf der andere Seite Menschen gibt, die sich mit falschen Attesten der Maskenpflicht entziehen.“

Ministerium hat keine Zahlen zu Maskenverweigerern in Schulen

Ob es sich bei den wohl nicht ordnungsgemäßen Attesten um Einzelfälle handelt, ist nicht klar. Weder dem Schulministerium noch der Bezirksregierung liegen Zahlen vor, in wie vielen Fällen Schüler von der Maskenpflicht per ärztlichem Attest befreit sind. Geschweige denn, in wie vielen Fällen die Atteste strittig sind: Es sei bisher in einigen wenigen Fällen zu Widerspruchs- und Gerichtsverfahren gekommen, so die Bezirksregierung Arnsberg. Das NRW-Schulministerium verweist darauf, dass jeder Einzelfall von den Schulleitungen bewertet werden müsse: „Aus einem Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, warum das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung aus medizinischen Gründen oder auf Grund einer Beeinträchtigung ausgeschlossen ist.“

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Eine stichprobenartige Befragung unserer Zeitung bei rund einem Dutzend Schulen hat ergeben, dass es vielerorts keine Probleme gibt. Und die Schulleitungen gehen sehr pragmatisch mit Einzelfällen um. „Wir haben nur zwei Schülerinnen und Schüler, die von der Maskenpflicht befreit sind“, so Andreas Mönnig, Leiter der Gesamtschule in Hagen-Helfe. „Diese beiden sitzen immer an geöffneten Fenstern im Präsenzunterricht. Die Maskenbefreiung ist aufgrund eines schlüssigen und aussagekräftigen ärztlichen Attestes erfolgt.“ An der Realschule Herdecke gibt es nur einen Fall, und zum Beispiel am Rivius-Gymnasium in Attendorn ist das Ganze überhaupt kein Thema.

Schon größere Dimensionen hat die Befreiung von der Maskenpflicht am Petrinum-Gymnasium in Brilon . Hier sind neun Schülerinnen und Schüler per Attest befreit. In drei Fällen hatte Schulleiter Johannes Droste Zweifel, weil diese Atteste von einem Mediziner aus Norddeutschland stammten, der bereits auffällig geworden war. „Nach klärenden Gesprächen mit den Betroffenen haben wir die Atteste aber anerkannt.“

>> HINTERGRUND: Ärztekammer wird aktiv

  • „Wir mussten eine Handvoll Ärzte in einem Schreiben darauf hinweisen, Werbung für die Ausstellung von Attesten zur Befreiung von Maskenpflicht zu unterlassen “, so Volker Heiliger: Sprecher der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Entsprechende Werbung fand sich beispielsweise auf Internetseiten von Medizinern.“
  • In einem Fall sei einem Lehrer in ein e r Schule aufgefallen, dass die halbe Klasse Atteste desselben Arztes vorgelegt habe. „Der Schuldirektor hatte sich daraufhin an uns gewandt. Die angeschriebenen Ärzte haben unseren Hinweis verstanden. Wir mussten bislang kein berufsrechtliches Verfahren einleiten“, so Heiliger.
  • Dabei könnte es im schlimmsten Fall zum Entzug der Approbation kommen. „Gemäß der Berufsordnung, die die Pflichten des Arztes gegenüber Patienten regelt, darf er ein Attest nur nach einer Untersuchung und einer Diagnose ausstellen.“
  • Ein Arzt dürfe die Privatmeinung haben , dass die Auswirkungen des Coronavirus nicht so schlimm sind und dass das Tragen von Schutzmasken nicht nötig sei. Er kollidiere aber mit dem Berufsrecht, wenn er Patienten dazu verleitet, gegen die Corona-Schutzverordnung des Landes zu verstoßen .“