Neuss. Im Lagezentrum IPCC in Neuss bewachen Hunderte Polizisten aus 24 Ländern das Fußballfest. Was, wenn ein Auto in eine Fangruppe fährt?
In Dortmund fährt ein Auto in eine Gruppe Fußball-Fans. In Viersen prügeln sich Hooligans. Nach Gelsenkirchen ist ein Bus unterwegs, in dem gewalttätige „Störer“ sitzen. Alles noch nicht passiert, aber jeder Fall dieser Fälle wird in diesen Tagen „beübt“, wie sie bei der Polizei sagen. Im neu aufgebauten Lagezentrum IPCC bereiten sich Hunderte Beamte und Beamtinnen derzeit auf die Fußball-EM vor, im Sommer haben sie von Neuss aus die Sicherheitslage in ganz Deutschland im Blick. Eine Schaltzentrale wie diese gab es bislang noch nie; sogar die nächsten WM-Gastgeber aus Amerika wollen kommen und lernen, wie das geht.
Dieser Raum ist „mehr als eine Leitstelle“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul. Schon wegen seiner Größe: Mit 500 Quadratmetern ist die schallgedämpfte Aula der Fortbildungseinrichtung, wo sie sonst Polizisten unterrichten, der größte Saal, den die Polizei hat im Land. Die Bühne trägt vier Tonnen Leinwand, auf 40 Quadratmetern flimmern gerade Bilder aus der Tagesschau, dem Dortmunder Stadion, vom Spielplan und vom Wetter. Zwei Millionen Euro haben sie gebraucht, um das Gebäude umzubauen für die EM. Nur ein Beispiel: Im liebevoll so genannten „Tanzsaal“ gab es bisher ganze vier Steckdosen. Vier! Jetzt liegen dort für 129 Computer fünf Kilometer Kabel unterm Boden.
Mehr als 200 Polizisten aus 24 Ländern
Hier will die Polizei sechs Fußballwochen lang immer „vor die Lage kommen“. Jedes Teilnehmerland schickt seine Verbindungsbeamten, der Bund Vertreter von Ministerien und Nachrichtendiensten, es wird ein internationales Infozentrum. Im blauen Bereich (blaue Stühle, blaue Schreibtische, blaue Stifthalter) werden dann mehr als 200 Polizisten aus 24 Ländern sitzen. Im gelben Abschnitt jene, die für Kommunikation zuständig sind. Im IPCC, „International Police Cooperation Center“, sitzen alle zusammen, die man braucht, um den Informationen kurze Wege zu bauen: weil jeder jeden kennt und auch dessen Telefonnummer. Kräfte werden von hier aus nicht eingeteilt, aber Erkenntnisse verteilt. Wie etwa nach Gelsenkirchen, wo die örtliche Behörde erst in der vergangenen Woche übte.
Denn schnell müssen sie sein, mahnt der Minister, mindestens so schnell wie die Sozialen Medien. 2006 zum Sommermärchen gab es das noch nicht, kein IPCC, aber auch kein Instagram, nicht einmal ein Handy mit Kamera. Alles ist moderner geworden, nur der gemeine Hooligan älter – oder noch unbekannt. Diesmal wollen sie frühzeitig mitbekommen, wenn irgendwo in Europa jemand in einen Fanbus steigt, der „nichts Gutes im Sinn hat“. Denn sie wissen, dass „rein statistisch eine EM nicht nur von friedlichen Menschen besucht wird“. Insgesamt erwarten sie Hunderttausende, die es zudem so leicht haben wie seit Jahren nicht mehr: Alles ist nah, man muss nicht einmal fliegen, die Grenzen sind offen.
Der „Fußball als weiches Ziel“: Verdächtige Gegenstände und ein Cyberangriff
Gerade arbeitet eine Gruppe in einer ersten „Stabrahmenübung“ an Szenarien, alle 82 ausgedacht vom Bundesamt für Katastrophenschutz (und ab Juni alles auf Englisch). Ein Spiel Ungarn gegen die Schweiz an einem fiktiven Tag im Jahr 2025, 13:54 Uhr. Es ist der erste Turniertag, es ist Köln, die Gefahrenlage: verdächtige Gegenstände und ein Unfall. In Stuttgart gibt es einen Cyberangriff auf das Parkleitsystem, über dem Flughafen Düsseldorf fliegt eine unbekannte Drohne. „Wer muss das wissen?“ Jemand schreibt eine „Meldung an externe Bedarfsträger“, ein Mann vom Technischen Hilfswerk spricht von „Fußball als weichem Ziel“. Auf den Schreibtischen stehen Kaffeetassen ohne Unterteller.
Auch die Lage „Böschung an ICE-Gleis brennt“ wäre im Ernstfall relevant, denn dann kämen die Fans nicht rechtzeitig nach München, aus Neuss werden sie es melden. Wie auch den „Autokorso nach dem Sieg der italienischen Nationalmannschaft“ oder den Neun-Sitzer, in dem 20 französische Fans hocken. Und bestimmt den „Sprengkörper im Nordsternpark Gelsenkirchen“. Die Meldungen gehen in Echtzeit in die Behörden vor Ort, mindestens in NRW haben alle Polizeikräfte während der EM Urlaubssperre. Hinzu kommt, dass es voraussichtlich auch im Sommer 2024 ein Leben neben der EM geben wird. Der Minister ahnt es: „Wir wissen ja nicht, was sonst noch passiert.“ Seine Leute werden es nicht verhindern können, aber sie könnten schnell reagieren.
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Aber natürlich geht es auch um Größeres. Die Situation habe „ganz andere Dimensionen“ als bei der deutschen Weltmeisterschaft vor 18 Jahren, weiß Reul, sie sei „ernster und angespannter“: Man müsse auch Extremisten und Terroristen im Blick haben, die Gefahr sei „abstrakt hoch, viel höher als 2006“. Was, wenn jemand die Fußballbühne im schlechten Sinne nutzen will für weltweite Aufmerksamkeit? „Es kann etwas passieren“, sagt der Minister ehrlich. „Wir sind bestmöglich vorbereitet, aber nicht zu 100 Prozent. Weil das nicht geht.“
Minister Reul: „Es kann etwas passieren“
Was in solchen Fällen genau geschehen müsste, verrät die Polizei nicht, das fällt unter „Verschlusssachenanweisung“. Seite an Seite schreiben Frauen und Männer „Vorlagen simulierte Epost“; Anlaufschwierigkeiten haben an diesem Tag nur die Kugelschreiber. Es sitzen im roten Bereich Landeswappen an Landeswappen: Bayern neben Niedersachsen, Baden-Württemberg neben Bremen, Rheinland-Pfalz an der Seite Berlins. Die Kleiderordnung ist festgelegt, man trägt Uniform, auch altgediente Kripoleute tun ihren Dienst nicht in Zivil.
Vier von zehn Spielstätten, 20 von 51 Spielen in NRW
Eine Deutschlandkarte der EM zeigt, warum die Polizei sich für den Standort NRW entschieden hat: Da knubbeln sich Dortmund, Gelsenkirchen, Düsseldorf und Köln, vier von zehn Spielstätten, 20 von 51 Spielen. Dazu sind in der Nähe zwei Flughäfen, zwei Grenzen und man könne hier feiern, behauptet der Rheinländer Reul. „Es besteht die Gefahr, dass Neuss zur Weltstadt wird.“ Alle Sicherheitskräfte hier zu konzentrieren, war ein Kraftakt, sagt Polizeidirektor und IPCC-Chef Oliver Strudthoff. Sie sind seit 2021 dabei, aber „nichts ist schlechter zu planen als ein Turnier“.
Denn wie voll es gegen dessen Ende noch sein wird und wer seine Mannschaft bis in die Finalrunde begleitet, ist natürlich auch bei der Polizei noch offen. Ist England noch dabei (dann bleibt es eng), spielt die Schweiz noch mit (gemütlich)? Vorsichtshalber feiern sie nach der Vorrunde ein Bergfest. „Mal sehen“, sagt der Minister, „wer als letzte Mannschaft hier noch wohnt.“ Auf einem frühen Foto der Zentrale hängt das deutsche Team im Großformat über den Schreibtischen.
Polizei: Ein Fußballturnier gibt es diesmal nicht
Für alle gibt es um IPCC auch ein Rahmenprogramm und für jeden ein Einzelzimmer; sie mussten Fahrzeuge organisieren, Betten verteilen, Ausflüge für die freien Tage anbieten (es geht nach Köln und Düsseldorf, aber auch ins Bergbaumuseum nach Bochum). Auf ein Fußball-Turnier allerdings haben die Planer lieber verzichtet. „Der Ehrgeiz würde mit den Kollegen durchgehen“, ahnt IPCC-Sprecherin Sonja Marx-Allgaier. Und Ausfälle wegen Sportverletzungen kann sich die Polizei während der EM nicht leisten.