Berlin. Frauen wollen mehr Selbstbestimmung bei der Geburt und suchen alternative Wege. Doch viele unterschätzen die Risiken einer Alleingeburt.

Eine schwangere Frau kniet am Strand in den Wellen. Einige Zeit später hält sie ihr schreiendes Neugeborenes in Armen, scheinbar hat sie es ohne Hilfe von Ärztinnen und Ärzten oder Hebammen zur Welt gebracht. Das Video ging vor mehr als zweieinhalb Jahren viral, verschiedene Medien berichteten darüber.

Auf Instagram, TikTok und Co. findet man mittlerweile viele Videos und Fotos von Frauen, die ihr Kind alleine und ohne medizinisches Fachpersonal gebären. Das Phänomen ist unter dem Namen „Alleingeburt“ oder „Freebirthing“ bekannt. Befürworterinnen in den Kommentarspalten auf Instagram oder YouTube sehen darin einen Akt der Selbstbestimmung – keine Eingriffe von außen, keine Nadeln im Arm, kein ungemütlicher Kreißsaal. Doch Fachleute warnen vor den Risiken.

„Alleingeburten sind aus meiner Sicht in keiner Situation vertretbar“, sagt Ursula Jahn-Zöhrens. Sie war bis 2018 freiberufliche Hebamme und ist heute Mitglied im Präsidium des Deutschen Hebammenverbands (DHV).

Geburten ohne medizinische Hilfe: Warum sind sie im Trend?

Die Zahl der geplanten und ungeplanten Alleingeburten in Deutschland wird offiziell nicht dokumentiert. Das Statistische Bundesamt erfasst allerdings jährlich alle Entbindungen im Krankenhaus sowie die Gesamtzahl aller Geburten in Deutschland. Rechnet man die Zahlen gegen, ergibt sich daraus, dass 2023 rund 96 Prozent aller Geburten in Kliniken stattgefunden haben.

Deutscher Hebammenverband Ursula Jahn-Zöhrens
War selbst lange als Hebamme tätig: Expertin Ursula Jahn-Zöhrens vom Deutschen Hebammenverband (DHV). © Deutscher Hebammenverband/Markus Braumann | Deutscher Hebammenverband/Markus Braumann

Nicht jede Geburt außerhalb des Krankenhauses erfolgt in kompletter Eigenregie, immerhin gibt es die Möglichkeit einer betreuten Geburt zu Hause oder in einem Geburtshaus. Hebammen dürfen diese nur begleiten, wenn keine gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind bestehen. Doch Jahn-Zöhrens hat durch den DHV immer wieder Kontakt mit Hebammen, die von Frauen berichten, die eine Alleingeburt planen und Wissen für einen möglichen Notfall sammeln wollen.

Die ehemalige Hebamme vermutet, dass das Phänomen durch Corona eine neue Brisanz bekommen habe: „Das Misstrauen gegenüber medizinischem Fachpersonal ist in der Pandemie gewachsen“, sagt Jahn-Zöhrens. „Plötzlich wurden anerkannte medizinische Standards hinterfragt.“ Das betreffe auch die Geburtshilfe.

Alleingeburten mit unvorhersehbaren Risiken: „Kann tödlich enden“

Dabei kann das medizinische Fachwissen im Ernstfall Leben retten. Die Gynäkologin Juliane Klaus ist Oberärztin der Geburtshilfe in der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung in Berlin und schätzt, dass circa zehn bis 15 Prozent der Geburten medizinische Hilfe erfordern. „Zu den häufigsten Risiken gehören starke Blutungen, die nur durch Medikamente, spezielle Handgriffe oder operative Eingriffe gestoppt werden können“, warnt sie. Gerade bei einer Blutung zähle jede Minute.

Juliane Klaus
Bei einer Geburt kann vieles passieren. Die Ärztin Juliane Klaus erlebt das regelmäßig bei ihrer Arbeit in der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung in Berlin. © Caritas Gesundheit Berlin gGmbH | Caritas Gesundheit Berlin gGmbH

Die Ärztin erklärt weiter: „Eine Verletzung wie ein Dammriss, der den Schließmuskel betrifft, sollte erkannt und zeitnah operativ versorgt werden – nicht nur, um die Kontinenz der Frau zu erhalten, sondern auch, um Infektionen zu verhindern.“ Ein weiteres häufiges Risiko sei ein Sauerstoffmangel beim Kind unter der Geburt. Wenn dieser nicht erkannt werde, könne er tödlich enden, so die Medizinerin.

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Hebamme warnt vor Alleingeburt: „Können so viele Dinge schiefgehen“

Auch die Berliner Hebamme Sissi Rasche warnt vor Komplikationen während und nach der Geburt. Schnell kritisch werden kann ihr zufolge etwa die sogenannte Plazentaperiode, bei der der Körper nach der Geburt den Mutterkuchen abstößt.

Die Plazenta entsteht während der Schwangerschaft in der Gebärmutter und ernährt das Ungeborene über die Nabelschnur. Nach der Geburt muss sie sich ablösen. „Vor allem bei Frauen, die schon mehrere Kinder bekommen haben, können dabei Probleme auftreten“, warnt die Geburtshelferin. So können starke Blutungen auftreten, die ohne Fachwissen schwer einschätzbar sind.

Die Hebamme hat Verständnis für Gebärende, die sich in Krankenhäusern nicht gut betreut fühlen und diese deswegen meiden. Rasche hat selbst vier Kinder zu Hause geboren, immer mit Hebammenbegleitung. Dennoch spricht sie sich gegen Alleingeburten aus: „Es können einfach so viele Dinge schiefgehen.“

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Hebamme Sissi Rasche über Geburt: „Ich habe das erst gar nicht bemerkt“

Das weiß Rasche aus eigener Erfahrung: „Eines meiner Kinder hatte bei der Geburt Anpassungsstörungen“, erinnert sie sich. Oft realisierten Gebärende in der Ausnahmesituation nicht, wann Hilfe erforderlich sei: „Ich habe das selbst gar nicht bemerkt – obwohl ich Hebamme bin“, sagt Rasche.

Unter einer Anpassungsstörung nach der Geburt verstehen Experten Probleme des Babys, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Zu den Symptomen gehören etwa Schwierigkeiten beim Atmen. Gynäkologin Klaus berichtet von einem Fall aus der Klinik: „Die Eltern dachten, [das Baby] würde schlafen. Ohne medizinisch geschultes Personal hätte das fatal enden können.“

Wochenbett
Hebamme Sissi Rasche aus Berlin spricht sich gegen Alleingeburten aus, auch wenn sie die Beweggründe dahinter in Teilen nachvollziehen kann. © Gina Walkowiak Photographie | Gina Walkowiak

In den sozialen Medien hört und liest man davon wenig. Rasche stellt fest, dass auf Instagram und anderen Plattformen meist nur die unkomplizierten Geburten gezeigt werden: „Eine Frau steigt in eine Wanne, und 30 Minuten später hält sie ihr Kind im Arm“, beschreibt sie diese. Keiner zeige eine Alleingeburt, die abgebrochen wurde oder weniger gut lief.

Ärztin berichtet von abgebrochener Alleingeburt

Medizinerin Juliane Klaus hat bereits miterlebt, dass eine Alleingeburt im Krankenhaus endete: „Eine Frau kam 18 Stunden nach einer Alleingeburt mit einer liegenden Plazenta zu uns“, sagt sie. Bei dieser Komplikation liegt die Plazenta im unteren Teil der Gebärmutter und bedeckt den inneren Muttermund teilweise oder vollständig. Klaus: „Das kann lebensgefährlich werden.“

Pregnant woman holds hands on her belly.  Pregnancy, maternity, preparation and expectation concept.
Wer sein Kind ohne ärztliche Hilfe zu Welt bringt, geht einige Risiken ein. © Getty Images | NataliaDeriabina

Die Frau habe ihre Plazenta trotz mehrerer eigener Versuche nicht lösen können. Die Gynäkologin erzählt: Obwohl die ärztliche Behandlung nur wenige Minuten gedauert habe, sei die Verzögerung äußerst riskant gewesen. „Ihre Skepsis gegenüber medizinischen Maßnahmen war so groß, dass wir jeden Schritt geduldig erklären mussten“, so die Ärztin.

Alleingeburt ist für viele Frauen ein Zeichen der Selbstbestimmung

Klaus beobachtet, dass viele Frauen große Angst vor einem Kontrollverlust und vor Eingriffen haben, denen sie in der Situation der Geburt nicht zustimmen können. Dabei sei eine Geburt oft mit einem gewissen Grad an Kontrollverlust verbunden – Wehen ließen sich nun mal nicht planen. „Eine Alleingeburt verspricht vielleicht das Gefühl von mehr Kontrolle und Selbstbestimmung“, so Klaus. „Letztlich läuft sie aber unkontrollierter ab als eine Klinikgeburt.“

Dennoch nehmen viele Expertinnen die Ängste der Frauen vor dem Kreißsaal ernst. Laut Jahn-Zöhrens vom DHV soll für die Geburt ein geschützter Raum geschaffen werden, in dem Frauen sich gut betreut, selbstbestimmt und respektiert fühlen. Grundsätzlich habe man in Deutschland aber bereits ein gutes Gesundheitssystem, sagt sie.

Dem Wunsch nach einer Alleingeburt begegnet die ehemalige Hebamme daher auch mit Kritik: „Ich finde es fast schon ein bisschen überheblich, das abzulehnen und eine Geburt allein zu Hause zu planen“, sagt sie. „Nach Motto: ‚Wenn es brennt, kann ich ja immer noch wen anrufen, der mir hilft.‘“