Berlin. Harmloses Spielchen oder schon sexueller Übergriff? Mancher Trend bei Kindern und Jugendlichen ist grenzwertig. Was Experten raten.

Aus dem Kinderzimmer sind Stimmen zu hören. Melina (Name geändert) hat zwei Freundinnen zu Besuch. Sie spielen ausgelassen. Dann wird die Mutter stutzig. „Wollen wir das mit dem Scheidenbohrer auch mal ausprobieren? So wie die Jungs das immer machen?“, hört sie eines der Mädchen sagen. Als die Mutter irritiert ins Zimmer schaut, reagieren die drei peinlich berührt. Sofort hören sie auf sich mit dem Ziel zu jagen, sich gegenseitig mit dem Zeigefinger von vorne zwischen die Beine zu piksen.

Der Scheidenbohrer ist die Abwandlung eines TikTok-Trends: dem sogenannten Arschbohrer, der offenbar auf Influencer Montana Black zurückgeht. Dabei rammen vor allem Jugendliche anderen Ahnungslosen den Zeigefinger zwischen die Pobacken. Meist wird die Reaktion gefilmt und im schlimmsten Falle ins Netz gestellt – klassisch kommentiert mit den Worten: „Arschbohrer kriegt jeder!“

Selbst an Grundschulen ist der Trend längst angekommen – meist ohne Filmen und mit dem verniedlichten Namen „Popobohrer“. Oder eben abgewandelt als „Scheidenbohrer“ wie bei Melina und ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in der zweiten Klasse.

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    Was tun, wenn die eigenen Kinder betroffen sind?

    „Wichtig ist, dass die eigenen Kinder gut aufgeklärt sind und wissen, wo ihre Grenzen sind“, sagt Schulpsychologin Christine Fahl, selbst Lehrerin an einer Grundschule. Auch sie kennt den „Popobohrer“ und ähnliche Situationen aus dem Alltag.

    Eltern sollten mit den Kindern zu Hause, aber auch die Lehrer mit der gesamten Klasse, besprechen, warum Spiele wie diese Grenzen überschreiten“. Allerdings ganz entspannt. Keiner sollte sich schuldig oder beschämt fühlen. „Den Kindern ist der sexuelle Aspekt, den wir Erwachsenen sehen, in den meisten Fällen gar nicht bewusst“, so Fahl.

    Neben dem „Arschbohrer“ gilt das etwa auch für das Hoserunterziehen, oder wenn andere auf den Toiletten beim Pinkeln beobachtet werden. Fahl rät Eltern, wenn sie von übergriffigem Verhalten im Schulalltag hören, immer die Klassenleitung einzubeziehen und sich – falls möglich – Unterstützung durch eine Sozialpädagogin oder einen Schulpsychologen zu suchen. Diese könnten beispielsweise eine Unterrichtseinheit zum Thema Grenzen und Sexualität abhalten.

    Aufklärung extrem wichtig – auch zu übergriffigem Verhalten

    Tom Scheel ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Sexualpädagogik und praktizierender Sexualpädagoge. Er ist regelmäßig in Schulklassen, um aufzuklären oder Probleme zu lösen. Körperlich übergriffiges Verhalten unter Kindern ist für ihn Alltag – leider.

    Auch der „Arschbohrer-Trend“ ist ein Thema: „Die Kinder und Jugendlichen sind immer sehr entsetzt, wenn ich ihnen sage, dass das ein sexueller Übergriff ist, was sie da machen“, berichtet Scheel. „Das hätten sie gar nicht für möglich gehalten.“

    Kinder achten weniger auf die körperlichen Grenzen anderer

    Dass Erwachsene eine andere Wahrnehmung der Dinge haben als die Kinder und Jugendlichen selbst, ist erst mal nichts Ungewöhnliches. „Gerade junge Kinder gehen mit sich selbst und auch mit gegenseitigen Berührungen vollkommen unbefangen um“, so Scheel. Das sei eigentlich etwas Gutes, bedeute aber gleichzeitig auch, dass sie viel weniger auf die Grenzen anderer achten.

    Ebenso mache es einen großen Unterschied, ob Kinder selbst berühren oder von anderen berührt werden, betont der Sexualpädagoge. Diese verzerrte Wahrnehmung führe am Ende zu Problemen. „Viele der Kinder und Jugendlichen, die diese Übergriffe erfahren, tun diese als Bagatelle ab.“ Hier gelte es, das Bewusstsein früh zu schärfen, dass niemand das Recht habe, andere ohne Zustimmung zu beobachten oder zu berühren.

    Kinder müssen lernen und darin bestärkt werden, anderen klare Grenzen zu setzen.
    Kinder müssen lernen und darin bestärkt werden, anderen klare Grenzen zu setzen. © Unbekannt | istock

    „Gruppendruck ist hier ein großes Problem“, meint Scheel. Kinder wollen dazugehören und machen mit. Hinzu komme: „Selbst Erwachsene reden Berührungen, die Kinder als unangenehm empfinden, teils klein.“ Wenn Kinder dadurch Übergriffigkeiten aber einfach ertragen, statt klare Grenzen zu setzen, ebne dies den Weg für immer stärkere Grenzüberschreitungen, so Scheel.

    Eltern sollten Prinzip der aktiven Zustimmung vorleben

    Der Sexualpädagoge wünscht sich, dass Kinder am besten schon von klein auf das Prinzip der Zustimmung erlernen und vorgelebt bekommen. „Nur wer explizit zustimmt, darf beispielsweise auch berührt werden“, erklärt Scheel. „Auch Schweigen bedeutet ‘nein’.“

    Gleichzeitig sei wichtig, darauf zu achten, die Kinder, deren Bauchgefühl und Selbstvertrauen zu stärken und sie nicht zu verunsichern oder gar zu verängstigen, ergänzt Schulpsychologin Fahl. Auch eigene Erfahrungen mit Körperlichkeit und das Austesten persönlicher Grenzen gehörten zum Heranwachsen.

    „Sexuell übergriffiges Verhalten hat zugenommen“

    Auch Scheel betont, dass Kinder ihren Körper erforschen müssen und dies wichtig sei – genauso wie ein „Nein“ oder „Stopp“ von anderen zu akzeptieren. Er beobachtet, dass Letzteres häufig einfach ignoriert werde. „Sexuell übergriffiges Verhalten bei Kindern hat in den letzten Jahren leider deutlich zugenommen“, sagt Scheel.

    Seine Erklärung: Kinder hätten über ältere Geschwister und Medien heute zum einen viel früher Zugang zu sexbezogenen Darstellungen, zum anderen begünstigten aber auch Vernachlässigung, konservative Erziehung und Klischeerollenbilder übergriffiges Verhalten.

    „Dass ein Kindergartenkind berichtet, ihre Freundin habe ihr gesagt, man müsse sich unten eine Banane hineinschieben, ist alles andere als normal“, berichtet Scheel, „dass kleine Kinder sich auch einfach mal nackig ausziehen und frei toben wollen, dagegen schon.“