Berlin. Stefans Ehe ist angespannt. Beim Flirt mit Männern empfindet er neben Scham auch Glücksgefühle. Paartherapeut überrascht das nicht.
Stefan steht unsicher an der Uferpromenade des Flusses, der durch seine Heimatstadt fließt. Nervös knibbelt er an seinen Fingern. Er scheint vor Anspannung fast zu zerplatzen. „Dort oben, an der Bar des Restaurants, habe ich mich das ein oder andere Mal mit jemandem getroffen“, erzählt der Familienvater mit einer Mischung aus Sachlichkeit und Scham. Es waren andere Männer. Bekanntschaften aus einer Dating-App.
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Es gab Drinks, Small Talk, Komplimente. Es wurde über die Jobs geredet, aber auch über sexuelle Neigungen. Dass Stefan eigentlich verheiratet war, kam selten zur Sprache. Verschwiegen habe er es aber nie, sagt Stefan, der eigentlich anders heißt. Insgesamt leben in Deutschland rund sechs Prozent der Männer Mitte Vierzig in einer heterosexuellen Partnerschaft, obwohl sie nach eigenen Angaben homosexuell sind. Das ergab eine Studie von der Wissenschaftlern der TU München aus dem Jahr 2018, in der das sogenannte Phänomen der „hidden homosexuals“ erstmals wissenschaftlich bewiesen werden konnte.
Stefan bezeichnet sich selbst als bisexuell, so wie laut einer weltweiten Studie aus dem Jahr 2021 ebenfalls sechs Prozent der Menschen. Er fühlt sich neben seiner Frau auch zu Männern hingezogen. Er wollte spüren, wie es ist, von einem Mann begehrt zu werden. Zum Geschlechtsverkehr kam es bei den Dates jedoch nie. Kurz davor habe er einen Rückzieher gemacht. „Nach den Treffen bin ich schon so immer voller Angst heimgefahren“, erinnert er sich. „Als ob auf meiner Stirn stehen würde ‚Ich habe dich hintergangen‘.“
Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 ist knapp jeder Dritte schon einmal fremdgegangen. Stefan fürchtete, mit jeder Kleinigkeit zu verraten, dass auch er dazu gehört. Denn dass sein Verhalten Betrug war, steht für ihn fest. Aber auch, dass er seine Frau eigentlich nie hintergehen wollte. „Ich wollte meine Frau nicht verletzten, sie nicht verlieren, nicht verlassen“, betont er.
Fremdgehen in der Ehe: Dating-App für den Seitensprung
Stefan war gerade zum zweiten Mal Vater geworden, seine Frau kämpfte mit den Hormonen, Familie und Freunde waren nach einem berufsbedingten Umzug weit weg. Stefan habe zu Hause ihren Stress und Frust abbekommen, habe als Katalysator gedient, wie er sagt. Zusätzlich habe sich sein neuer Chef als narzisstischer Tyrann entpuppt. „Ich brauchte dringend einen Ausgleich“, erinnert sich Stefan, „irgendeine Form von Bestätigung.“
Ein Mechanismus, den der Berliner Paartherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger aus seinem Praxisalltag gut kennt. „Fremdflirten, Dates, Seitensprünge und Affären sind in den meisten Fällen ein Zeichen, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt“, sagt der Psychologe. Dabei sei es egal, ob Partner hetero- oder bisexuell seien und ob es zu Geschlechtsverkehr komme oder nicht. „So etwas erschüttert eine Beziehung.“ Darüber solle sich jeder im Vorfeld im Klaren sein, alles andere sei naiv.
„Mir war klar, dass ich keine Beziehung auf Gefühlsebene suche, meine Familie war mir heilig, auch meine Frau liebte ich über alles“, versucht sich Stefan zu erklären. „Das hat sich bis heute nicht geändert.“ Aber er habe sich schon immer auch ein wenig zu Männern hingezogen gefühlt. Mit ihnen zu kommunizieren, habe sich einfacher angefühlt. Die Fronten seien klar gewesen. Treffen waren eher Spielerei, ernste Absichten gab es auch vor den Dates nicht.
Das mag sein, ordnet Krüger ein. Der Experte weiß, dass Männer weibliche Anteile gerne außerhalb einer Beziehung ausleben, wenn in dieser kein Raum dafür geschaffen wird. „Wenn die Männer dabei jedoch bemerken, dass der homosexuelle Anteil in ihnen überwiegt, bedeutet das das Aus für die Ursprungsbeziehung“, so der Psychologe. Anders als am Vertrauensbruch könne daran ja nicht gearbeitet werden.
Fremdgehen verheimlichen „war unglaublich anstrengend“
Seiner Frau hat Stefan nach den Treffen erzählt, dass er lange arbeiten musste. „Spätdienst, Überstunden, Firmen-Events, endlose Meetings“, erinnert er sich. Nichts Ungewöhnliches bei Stefan. Dass er in der Stadt unterwegs war, bekam sie nicht mit. Sie war eingespannt mit zwei kleinen Kindern daheim, kämpfte laut Stefan mit eigenen Problemen, dem Spagat zwischen Familie und Job, war depressiv. „Gefühlt konnte ich in dieser Zeit nichts richtig machen.“
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Stefan atmet schwer, während er langsam am Fluss entlangläuft. „Ich bin nicht stolz darauf, was ich getan habe. Es hat vieles in unserer Beziehung unnötig schwieriger gemacht.“ Stefan wendet den Blick ab, als schäme er sich für das, was er gleich erzählen wird. „Gleichzeitig war es unglaublich aufregend, andere zu daten. Da war der Reiz des Verbotenen, das Adrenalin, dieses Knistern. Es war wie ein Energie-Kick, um mein eigenes Leben weiter zu ertragen.“ Zudem habe er sich nach Anerkennung und Bewunderung gesehnt. Ein Grund, den auch Krüger häufig hört.
Noch heute, fünf Jahre nachdem Stefan erwischt wurde, erinnere er sich an die Glücksgefühle, die er damals bei seinen Dates erlebt habe. „Das Leben fühlte sich für einen kurzen Moment so gut und unbeschwert an.“ Stefan vergleicht es mit der Suche nach einer heilen Welt, einem Paralleluniversum, während er zeitgleich versucht habe, sein eigentliches Leben zu retten, stark für seine Frau und seine Kinder zu sein – und damit völlig überfordert gewesen sei.
Beim Fremdgehen erwischt – so kam Betrug ans Licht
Stefans Dates flogen auf, als seine Frau Chats auf seinem Handy entdeckte. Etwas, das laut Beziehungsexperte unvermeidbar ist. „Wenn ein Partner ehrlich wissen, möchte, ob der andere fremdgeht, kommt dies erfahrungsgemäß immer ans Licht“, so Krüger. Nach Monaten voller Streits, Distanz, emotionalen Zusammenbrüchen und dem Versuch, das Gefühlschaos irgendwie selbst in den Griff zu bekommen, entschieden sich Stefan und seine Frau zu einer Paarberatung. Ein Schritt, zu dem auch Krüger in einer solchen Situation raten würde. Zeitgleich starteten beide eine Psychotherapie, wie Stefan erzählt. „Das hat mir gezeigt, dass ich nicht stark genug bin, alle meine Probleme alleine durchzustehen, und dass das auch niemand von mir erwartet.“ Noch immer falle es ihm schwer, aktiv um Hilfe zu bitten und offen über Probleme zu sprechen.
„Aber mein Leben, meine Geisteshaltung hat sich nach dem Fremdgehen verändert“, sagt Stefan. Er sei aktiver, habe gelernt, konstruktiver mit Herausforderungen und depressiven Phasen umzugehen. Stefan wechselte den Arbeitgeber, um den Druck zu beenden, das toxische Umfeld loszuwerden. „Und ich habe mich seither nicht mehr gescheut, unangenehme Entscheidungen zu treffen, wenn sie mir langfristig guttun.“
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Stefan und seine Frau sind noch immer zusammen. Damit gehören sie laut Krüger zu dem Drittel der Paare, denen das nach einem Seitensprung gelingt. „Ich glaube, wir haben uns beide oft gefragt, warum wir ein Paar bleiben“, sagt Stefan. „Aber da ist einfach eine tiefe Liebe und Verbundenheit.“ Aber auch fünf Jahre später sei der Betrug noch Thema. Manchmal würden Gedanken an damals aufblitzen, ein sporadisches Verlangen nach dem Kick, so Stefan. Das sei aber gut handhabbar, betont Stefan. „Denn dieses Leid, das aus meinem Daten entstanden ist, möchte ich nicht noch einmal durchmachen.“