Dortmund. Dortmunder Bildungsforscherin fordert mehr Leseförderung in Familien und Schulen und erklärt, was soziale Medien mit dem Trend zu tun haben.

Erneut bekommt das Bildungssystem in NRW schlechte Noten. Im IQB-Bildungstrend 2022 schneiden Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in NRW im Fach Deutsch besonders schlecht ab. Erst im Mai ergab die IGLU-Studie an Grundschulen, dass etwa ein Viertel der Kinder nach der vierten Klasse die Mindestanforderungen beim Lesen nicht erreicht. Zugleich belegen Studien, dass Jugendliche nur noch selten ein Buch in die Hand nehmen und immer weniger lesen.

Wo liegen die Ursachen und wie kann man gegensteuern? Darüber sprachen wir mit Erziehungswissenschaftlerin PD Dr. Ramona Lorenz, Expertin für digitale Medien in Schulen sowie Leseleistungen von Schülerinnen und Schülern am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU-Dortmund.

Der IQB-Bildungstrend zeigt, Jugendliche in NRW landen mit ihren Leistungen beim Lesen nur auf Platz 14 von 16 Bundesländern – wo sehen Sie die Ursachen?

Ramona Lorenz: Mehrere Studien haben gezeigt, dass Defizite durch Einschränkungen während der Corona-Pandemie verstärkt wurden. Das belegt aber auch, wie wichtig ein pädagogisch wertvoller Unterricht für die Entwicklung der Basiskompetenzen für die Schülerinnen und Schüler ist. Kinder mit Migrationshintergrund, in deren Familien kein Deutsch gesprochen wird, leiden unter dem Unterrichtsausfall ganz besonders.

Zugleich zeigen Daten des Landesstatistikamtes IT.NRW, dass Haushalte immer weniger Geld für Bücher, Zeitungen sowie E-Books und Online-Abos ausgeben – sehen Sie da einen Zusammenhang?

Ja, durchaus. Schulleistungsstudien haben immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig das familiäre Umfeld für die Entwicklung der Kinder ist. Vorlesen und Lesen prägen die Lesekompetenz. Dabei haben die Eltern eine Vorbildfunktion, doch leider hat dies in den vergangenen Jahren stetig abgenommen. Beim Lesen kommt es aber auch darauf an, um welche Texte es sich handelt.

Wie meinen Sie das?

Immer mehr Kinder und Jugendliche lesen online. Das sind aber meist eher kleine Textpassagen, Chat-Verläufe oder Kurznachrichten. Dabei spielt korrekte Zeichensetzung oder Rechtschreibung kaum eine Rolle. Das ist etwas ganz anderes als komplexe und qualitativ hochwertigen Texte zu lesen.

Aber Fehler bügeln doch die Korrektursysteme automatisch aus, oder?

Ja, manche Lehrkräfte berichten, dass sie ihre Schüler kaum noch dazu motivieren können, Rechtschreibung zu lernen, denn das macht ja der Computer. Dabei ist das sehr wichtig.

Warum?

Viele Kinder haben Probleme, komplexe und längere Texte zu verstehen. Defizite bei den Lese- und Schreibfähigkeiten wirken sich dann auf die weitere Bildungs- und Berufslaufbahn aus. Wir verlieren im Laufe der Schulzeit immer mehr Kinder.

Bildungsforscherin PD Dr. Ramona Lorenz.
Bildungsforscherin PD Dr. Ramona Lorenz. © TU Dortmund

Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?

Informationen aufzunehmen und Zusammenhänge wiedergeben zu können, muss trainiert werden. Lesestrategien und Konzentration auf das Textverständnis erfordern viel Übung. Das lässt aber nach. Es geht nicht darum, digitale Medien zu verteufeln. Das digitale Lesen ist nicht grundsätzlich schlechter als das Lesen auf Papier. Es kommt aber auf die Qualität des Textes an. Leider sind die digital dargebotenen Texte oft kurz und oberflächlich.

Wird die zunehmende Nutzung digitaler Medien womöglich andere wichtige Kompetenzen hervorbringen?

Ich hoffe das. Man sagt ja: Man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen, wo es steht. Aber ich habe daran Zweifel. Die Jugendlichen müssen lernen, mit den Informationen im Netz richtig umzugehen, sie kritisch zu hinterfragen, Quellen zu überprüfen. Nicht alles, was ich online finde, ist seriös und richtig. Vieles wird einfach übernommen, geteilt und kopiert. Der kritische Blick muss deutlich geschärft werden. KI-Sprachmodelle wie ChatGPT machen dies umso wichtiger.

Nur noch ein Drittel der Jugendlichen liest regelmäßig ein Buch, finden Sie das bedenklich?

Ja, wenn man wenig liest, wirkt sich das nicht nur auf die Lesekompetenz aus, sondern auf die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit.

Das ist also eine Frage der Bildung?

In der neunten Klasse stehen viele Kinder kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit. Sprachliche Defizite wirken sich aber nicht nur auf die persönlichen Chancen aus. Wenn man komplexe Zusammenhänge in geschriebener Form nicht oder nur mühsam versteht, ist das auch für die soziale und gesellschaftliche Teilhabe bedenklich. Das geht uns am Ende alle etwas an.

Welchen Rat würden Sie Eltern, Lehrkräften und der Politik geben?

Eltern möchte ich sagen, dass gemeinsames Lesen einen positiven Effekt für die sprachliche Entwicklung der Kinder hat. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Von Kleinauf sollte man damit anfangen - zuerst mit Bilderbüchern, später mit komplexeren Texten - gemeinsam lesen und dann über die Inhalte sprechen. Und Lehrkräfte sollten den Lernstand ihrer Schüler stärker in den Fokus nehmen und dafür regelmäßig die Leistungen der Kinder überprüfen. Mithilfe einer regelmäßigen Diagnostik kann gezielt gefördert und der Lernfortschritt geprüft werden.

Und die Politik?

Es gibt gute Förderprogramme für den Unterricht, die die Lesekompetenz erwiesenermaßen stärken. Die Politik sollte auch die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte stärken. Schulen sollten zudem die Möglichkeit haben, die Lesezeiten auszuweiten. Und: Lesekompetenz kann nicht nur im Deutschunterricht gestärkt werden, man kann auch in Geschichte oder Erdkunde komplexe Texte lesen und die Entwicklung von Lesestrategien fördern.

Haben wir in NRW zu viel Zeit verloren?

Man muss möglichst früh mit der Förderung einsetzen. Die IGLU-Grundschulstudie hat gezeigt, dass ein Viertel der Kinder die Mindeststandards beim Lesen am Ende der Grundschulzeit nicht erreicht. Diese Defizite verstärken sich, wie wir jetzt bei den Neuntklässlern sehen. Kurz vor dem Ende der Pflichtschulzeit ist es ein bedenkliches Ergebnis, das in der Schule kaum noch aufgefangen werden kann.

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