Düsseldorf. Verheerend schneiden NRW-Jugendliche im IQB-Bildungstrend in Deutsch ab. Woran es liegt und warum der Trend in Englisch anders ist.
NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) hat Erwartungen gedämpft, dass die Deutsch-Kompetenzen von Jugendlichen in der Sekundarstufe 1 in NRW zügig verbessert werden könnten. „Das A und O ist die Förderung der Basiskompetenzen in den Grundschulen“, sagte sie am Mittwoch im Schulausschuss des Landtags.
Die Landespolitik ist beunruhigt, weil Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen aus NRW im neuen „IQB-Bildungstrend“ im Fach Deutsch im Ländervergleich besonders schlecht abgeschnitten haben. Beim Lesen landen die Jugendlichen aus NRW nur auf dem 14. Platz unter 16 Bundesländern. Als eine wesentliche Ursache vermutet die Landesregierung einen „Corona-Effekt“. Es gibt aber einen zweiten, auch aus NRW-Sicht sehr positiven Trend: Im Fach Englisch haben sich Neuntklässler aus allen Bundesländern in den vergangenen Jahren deutlich verbessert.
Opposition sieht NRW in der "Bildungskatastrophe"
Feller will sich nun zwar vor allem auf die Förderung der Grundschulkinder konzentrieren, aber auch die Empfehlungen der aktuellen IQB-Studie sorgfältig prüfen, um gegebenenfalls auch Kinder in den 7., 8. und 9. Klassen besser zu unterstützen.
Für die SPD-Opposition ist das schwache Abschneiden der NRW-Schüler im Fach Deutsch Ausdruck einer „Bildungskatastrophe“ im Land. Die Liberalen warnen Feller davor, den Fokus zu stark auf die Grundschulen zu richten. Dadurch werde viel Zeit verloren, warnte FDP-Bildungsexpertin Franziska Müller-Rech. Auch die AfD sieht NRW als großen „Verlierer“ im Bildungstrend.
Wie haben Neuntklässler aus NRW im IQB-Bildungstrend abgeschnitten?
Kurz gesagt: In Deutsch sehr schlecht, in Englisch überraschend gut. Die "Kompetenzwerte" beim Lesen, besonders aber beim Zuhören im Deutschunterricht sanken zwischen 2015 und 2022 deutlich. Das gilt für fast alle Bundesländer, besonders aber für NRW. Neuntklässler aus diesem Bundesland landen beim Lesen nur auf Platz 14 von 16. Bei Vorgänger-Studien schnitt NRW etwas besser ab. 2009 lag es auf Platz 10, 2015 auf Platz 13. Auch in der Rechtschreibung fallen Neuntklässler negativ auf.
Beim Leseverstehen im Fach Englisch sieht die Lage ganz anders aus. Dirk Schnelle aus dem NRW-Schulministerium sagte vor dem Landtags-Schulausschuss, es gebe hier einen "durchgängigen" Kompetenzzuwachs und damit eine "äußerst positive Entwicklung", auch in NRW. Auch beim Hörverstehen Englisch schneiden die Jugendlichen demnach deutlich besser ab als früher.
Welche Gründe gibt es für das schlechte Abschneiden im IQB-Bildungstrend?
Immer wieder werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie genannt, aber das gilt natürlich für Schülerinnen und Schüler in allen Bundesländern, die monatelang im Distanzunterricht festsaßen und kaum noch Kontakt zu Gleichaltrigen hatten.
Kurioserweise scheint die Corona-Zeit umgekehrt den Kenntnissen der Jugendlichen in Englisch einen Schub gegeben zu haben. Zwar war auch der Englischunterricht von den Corona-Einschränkungen betroffen, es scheinen hier aber anders als im Fach Deutsch viel mehr "außerschulische Lerngelegenheiten" genutzt worden sein, so Dirk Schnelle aus dem NRW-Schulministerium. Schnelle nannte als Beispiele Online-Spiele und englische Sprachvideos. Die Nutzung digitaler Medien während der Pandemie sei wahrscheinlich häufig in englischer Sprache erfolgt. Das dürfte die Entwicklung des Leseverstehens und des Hörverstehens gefördert haben, so Schnelle.
Insgesamt habe die IQB-Studie herausgearbeitet, dass das Interesse der Neuntklässler am Englischunterricht viel größer als am Deutschunterricht sei.
Welche Rolle spielt der Migrationshintergrund von Schülerinnen und Schülern?
Der im Ländervergleich relativ hohe Anteil von Schulkindern mit Migrationshintergrund in NRW dürfte nach Einschätzung der Landesregierung auf das Ergebnis der Studie im Fach Deutsch durchgeschlagen haben. "Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die zu Hause immer und nur deutsch sprechen, ist in den vergangenen Jahren in NRW deutlich zurückgegangen. Auch hier sehen wir Teils spürbare Unterschiede zwischen den Bundesländern", so Dirk Schnelle. Viele Kinder mit Migrationshintergrund hätten es deutlich schwerer, Deutsch zu lernen, weil sie in ihrem Alltag mit weniger deutschen Worten in Kontakt kämen als andere Schüler.
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte profitieren laut dem Bildungstrend allerdings in besonderem Maße vom Englischunterricht. "Entweder bringen sie bereits einfache Englischkenntnisse aus ihren Herkunftsländern mit, oder es fällt ihnen leichter, Englisch als Fremdsprache geneinsam mit ihren Klassenkameraden zu lernen, denn Englisch ist ja für alle Schülerinnen und Schüler eine Fremdsprache. Bei Deutsch ist das nicht der Fall, erläuterte Schnelle. Jugendliche mit Migrationshintergrund seien daher in Englisch stärker als Jugendliche ohne Zuwanderungsgeschichte.
Wie reagiert die Landesregierung auf die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends?
Aus der Sicht von NRW-Schulministerin Dorothee Feller kommen die Ergebnisse der Studie nicht überraschend, und sie beträfen sämtliche Länder. Es gebe auch und gerade in NRW "großen Nachholbedarf" im Fach Deutsch.
Das schlechte Abschneiden der Neuntklässler sei im Prinzip die logische Folge des schlechten Anschneidens der Grundschulkinder in vergangenen Jahren. Wer mit geringen Kompetenzen von der Grund- auf de weiterführende Schule wechsele, dem falle es schwer, diese Wissenslücken zu füllen.
"Daher sehen wir unseren Schwerpunkt in der Grundschule", sagte Feller. Dort werde der Grundstein für eine gute Laufbahn in der weiterführenden Schule gelegt.
Zur Stärkung der "Basiskompetenzen" von Grundschulkindern führe NRW verbindliche "3x20 Minuten Lesezeit" in der Woche ein und stelle den Lehrkräften anerkannt gute Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.
Die Landesregierung hofft, dass das zwischen Bund und Ländern zu vereinbarende "Startchancenprogramm" zu Lernerfolgen führt. Das ist ein Projekt für mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung, von dem besonders Kinder in sozial benachteiligten Stadtteilen profitieren sollen. Dieses Programm könne womöglich ab den Schuljahr 2024/25 Wirkung entfalten und zwar nicht nur in den Grund-, sondern auch in den weiterführenden Schulen.
Der Weg hin zu mehr Schulerfolg der Kinder und Jugendlichen sei lang, gibt Feller zu Bedenken. "Wir haben es hier mit Menschen zu tun. Man kann da nicht wie bei einer Maschine über Nacht ein Upgrade machen."
Was sagt die Opposition dazu?
Dilek Engin, Schul-Expertin der SPD-Landtagsfraktion, nennt die Ergebnisse der Studie "desaströs". Man könne auch an diesem Bildungstrend ablesen, dass das Land in eine "echte Bildungskatastrophe" geschlittert sei.
Bereits in vorangegangenen Studien war NRW unter den Verlierern: Laut dem „Bildungsmonitor 2023“ des Instituts der deutschen Wirtschaft schneidet NRW bei den Betreuungsbedingungen, bei den Bildungsausgaben und im Kampf gegen Bildungsarmut schlecht ab. Im Länder-Vergleich liegt NRW hier nur auf Rang 13 von 16.
Besorgnis erregend waren auch die Befunde des "IQB-Bildungstrends" aus dem Jahr 2022 bei Viertklässlern. Demnach hat jeder fünfte Grundschüler aus diesen Klassen in NRW sehr große Probleme beim Lesen. Und laut der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), die Mitte Mai vorgestellt wurde, erreichen in Deutschland ein Viertel der Kinder nicht das Mindestniveau beim Textverständnis.
Franziska Müller-Rech (FDP) warnt davor, jetzt einseitig auf die Probleme der Grundschulkinder zu schauen und die Jugendlichen in der Sekundarstufe 1 zu vernachlässigen. Die Schulexpertin der Liberalen schlägt unter anderem eine Verschlankung der Lehrpläne vor, um die Lernenden von Ballast zu befreien. Finnland zeige, dass auch mit dünneren Lehrplänen gute Ergebnisse erzielt werden könnten.
Schulministerin Feller hält dagegen: Die Bildungsstudien schauten sehr auf die Standards, die für den Unterricht gesetzt würden. Sollte NRW die Lehrpläne stark ausdünnen, könnten diese Standards nicht mehr erfüllt werden, "und dann haben wir auch ein Problem", so die Ministerin.
"NRW liegt in neuen IQB-Bildungstrend in allen Bereichen unter dem Bundesschnitt. Bei den Kompetenzen in Deutsch ist NRW der Verlierer im Bildungstrend", sagte Carlo Clemens (AfD).