Berlin. Immer mehr SPD-Vertreter rufen nach Boris Pistorius als Kanzlerkandidat. Der Verteidigungsminister hat einen großen Vorteil gegenüber Scholz.

Boris Pistorius hat in der Kandidatenfrage für Klarheit gesorgt. „Definitiv“ könne er ausschließen, beteuerte der Verteidigungsminister, „dass ich noch Papst werde“. Was Pistorius aber nicht ausschließt, ist, dass er Kanzlerkandidat der SPD wird. Bisher erhebt Pistorius zwar keinen Anspruch darauf, anstatt Amtsinhaber Olaf Scholz bei den vorgezogenen Neuwahlen anzutreten. In der SPD wird jedoch damit gerechnet, dass der Niedersachse bereitsteht, wenn er gefragt wird. Und die Anzahl derjenigen, die in der SPD offen nach ihm fragen, wird immer größer.

Es begann mit Kommunal- und Landespolitikern, dann folgten erste Bundestagsabgeordnete, die Pistorius als Kandidat forderten. Und spätestens seit am Montagabend mit Dirk Wiese und Wiebke Esdar Vertreter von gleich zwei wichtigen innerparteilichen Strömungen sich für Pistorius aussprachen, läuft die Debatte ungebremst.

Scholz oder Pistorius? Frühere SPD-Größen beziehen Position

Ex-Kanzler Gerhard Schröder warnte davor, Scholz zu beschädigen. Auch die Hamburger SPD-Vorsitzenden stellten sich hinter den ehemaligen Bürgermeister der Hansestadt: „Wir unterstützen Olaf Scholz sowohl als Kanzler als auch als Kanzlerkandidat. Daran wird sich nichts ändern“, sagten Melanie Leonhard und Nils Weiland dieser Redaktion. Der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel wies dagegen auf Widerstand an der Basis gegen ein „Weiter-so“ hin.

Wahlkampf nur mit Olaf, sagen die einen. Keine Chance ohne Boris, die anderen. Kann der Verteidigungsminister es wirklich besser?

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Meine schwerste Entscheidung

Ein Punkt, auf den Unterstützer von Pistorius verweisen: Er ist beständig der beliebteste Politiker Deutschlands, während Scholz weiter absackt. Dieser Trend stärkt Pistorius im Vergleich zu Scholz. In einem aktuellen Ranking des Instituts Insa liegt Scholz von 20 abgefragten Politikern nur noch auf dem letzten Platz. Pistorius hingegen führt die Rangliste an. Auch in anderen Umfragen schneidet der Verteidigungsminister deutlich besser ab als der Kanzler.

Angesichts der schlechten Umfragewerte der SPD ist mit einer Kanzlerkandidatur von Boris Pistorius für viele Sozialdemokraten die Hoffnung verbunden, dass er die Partei hochzieht. So war es 2021 mit Olaf Scholz gewesen: Der damalige Kanzlerkandidat hatte im Wahlkampf lang bessere Werte als seine Partei, kurz vor Schluss stieg dann auch die Zustimmung zur SPD, die schließlich stärkste Kraft wurde. Das könne nun auch Pistorius gelingen, so die Hoffnung seiner Befürworter.

Obwohl Pistorius seit Januar 2023 Teil der Regierung gewesen ist, hat ihn der Ampel-Imageschaden verschont. Dabei vertritt der Verteidigungsminister durchaus Positionen, die in der Bevölkerung umstritten sind: Der 64-Jährige fordert, Deutschland müsse gegenüber einer Bedrohung aus Russland „kriegstüchtig“ werden – das war eine Formulierung, die selbst manchen in der SPD nicht gefiel. Pistorius will die Bundeswehr weiter modernisieren und besser ausstatten, das erfordert weitere Milliarden. Zudem ist der Niedersachse der Ansicht, dass Deutschland wieder eine Wehrpflicht braucht.

German Chancellor Scholz and Defence Minister Pistorius take part in the commissioning of the IRIS-T SLM air defence system in Panker
Laut einer aktuellen Umfrage der beliebteste und der unbeliebteste deutsche Politiker: Verteidigungsminister Boris Pistorius (links) und Bundeskanzler Olaf Scholz. © REUTERS | Fabian Bimmer

Boris Pistorius, die Projektionsfläche: Experte sieht Chance und Risiko

Solche Positionen dürften im Wahlkampf noch einmal viel schärfer in die Diskussion geraten, sollte Pistorius Kanzlerkandidat werden. Bei den Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg hatte die SPD bereits erlebt, dass vielen Menschen der Kurs von Scholz viel zu weit geht.

Jenseits der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat Pistorius, der vor seinem aktuellen Amt Landesminister in Niedersachsen war, bisher wenig scharfe politische Konturen. „Pistorius ist eine Projektionsfläche“, sagt Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler von der Uni Kassel. Bei vielen wichtigen Politikfeldern – Rente, Sozialpolitik, Wirtschaft – wisse man nicht genau, wie gut er sich behaupten könne. Das sei für die SPD „Chance und Risiko zugleich“.

Scholz ist nicht nur der breiter aufgestellte Fachmann, er verfügt auch über eine größere Regierungserfahrung als Pistorius. Mit einem Kanzlerkandidaten Pistorius würde die bisherige SPD-Strategie über den Haufen geworden, Scholz im Gegensatz zu Unionskandidat Friedrich Merz in einer Welt voller Krieg und Krisen als den weitaus erfahreneren und besonneneren Politiker darzustellen.

„Jemand muss Scholz sagen, ‚Olaf, das hat keinen Sinn mehr.‘““

Wolfgang Schroeder
Universität Kassel

Pistorius hat eine Qualität, die Scholz nicht hat

Der Verteidigungsminister hat aber eine andere Qualität, die im Wahlkampf von entscheidender Bedeutung sein kann: Pistorius spricht klar und verständlich. Scholz hat gerade in wichtigen Momenten Schwierigkeiten, mit einfachen Sätzen emotional den richtigen Ton zu treffen. Das war etwa nach dem Messeranschlag von Solingen zu beobachten gewesen. Redet Pistorius, klingen sein Ton und seine Wortwahl hingegen oft alltags- und lebensnah.

Das gewichtigste Argument gegen Scholz ist aus Sicht von Schroeder allerdings ein anderes: Die Parteibasis der SPD sage von Tag zu Tag lauter, dass sie nicht für Scholz Wahlkampf machen wolle.  „Eigentlich ist die Frage entschieden“, sagt er, und fügt in Anspielung auf den Rückzug von Joe Biden im US-Wahlkampf hinzu: „Jetzt fehlt nur noch der Pelosi-Moment: Jemand muss Scholz sagen, ‚Olaf, das hat keinen Sinn mehr.‘“

Scholz meldet sich vor Parteischalte zu Wort: „Gemeinsam: Ich und die SPD.“

Für den Dienstagabend war eine Schalte der SPD-Führung angesetzt, mit den Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken, Generalsekretär Matthias Miersch und den stellvertretenden Parteivorsitzenden. Eigentlich eine Telefonkonferenz zur Organisation des Wahlkampfs. Doch über allem schwebt die Frage, wer die Partei in diesem anführen soll.

Scholz meldete sich vorher aus Brasilien zu Wort. Wer sich für den Weg von Neuwahlen entscheide, löse damit eine Diskussion darüber aus, wie man sich dafür aufstelle, sagte der Kanzler nach dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro. „Aber das ist für die SPD klar und auch für mich. Wir gehen in diese Wahl hinein, um erfolgreich aus ihr herauszugehen. Wir wollen gemeinsam erfolgreich sein.“ Auf Nachfrage bekräftigte Scholz noch einmal, die SPD wolle gewinnen: „Gemeinsam: Ich und die SPD.“