Berlin. So viele Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen wie bei dieser Wahl gab es noch nie. Wer auf welche Strategie setzt und wer welche Chancen hat.
Robert Habeck, „bei Freunden in der Küche“, allein, nicht im Anzug, sondern im schlichten schwarzen Pullover: Es ist die größtmögliche inszenierte Normalität, in der Habeck seine Bewerbung fürs Kanzleramt offiziell macht, in einem Video, das am Freitagnachmittag veröffentlicht wurde.
Er ist nicht der Einzige, der Ambitionen auf das Amt des Regierungschefs hat. Gab es früher üblicherweise genau zwei Parteien, die Anspruch auf das Kanzleramt erhoben, tummeln sich inzwischen eine ganze Reihe von Aspiranten aus unterschiedlichen Lagern – und mit sehr unterschiedlichen Erfolgsaussichten. Der Überblick, wer jetzt antritt, mit welchen Strategien und mit welchen Aussichten.
Robert Habeck
Es ist kein Geheimnis, dass Robert Habeck gerne schon 2021 für seine Partei um das Kanzleramt gekämpft hätte. Drei Jahre später bekommt er seine Chance. Die Ausgangslage allerdings ist jetzt deutlich schlechter. Die Jahre in der Ampel-Koalition haben die Grünen viel guten Willen gekostet. In der ersten Umfrage, die nach dem Aus der Koalition durchgeführt wurde, haben sich die Grünen zwar leicht verbessert, sind aber mit 12 Prozent immer noch weit davon entfernt, stärkste Kraft zu sein.
In der Ankündigung seiner Kandidatur ist Habeck deshalb bemüht, die Balance zu halten zwischen dem Selbstbewusstsein, das Land führen zu wollen, und der Demut, die viele Menschen nach dem Scheitern der Ampel-Koalition vom Vizekanzler erwarten. „Ich bin bereit, meine Erfahrung, meine Kraft und meine Verantwortung anzubieten“, sagt er da. „Wenn Sie wollen, auch als Kanzler.“ Er wisse, sagt Habeck, dass Vertrauen kaputtgegangen sei, und dass man sich einen Führungsanspruch verdienen müsse. „Ich will ihn mir erarbeiten.“
Habeck und die Grünen setzen darauf, dass viele Menschen im Land weder von Olaf Scholz noch Friedrich Merz überzeugt sind und auf ein drittes Angebot hoffen. Dafür setzt er auf einen Mitte-Kurs, der auch Wählerinnen und Wähler ansprechen soll, die früher vielleicht die CDU von Angela Merkel gewählt haben. An der Parteibasis und bei der Kernwählerschaft der Grünen hat Habecks Zug zur Mitte in der Vergangenheit allerdings immer wieder für Ärger gesorgt.
Olaf Scholz
Wer als Amtsinhaber in eine Wahl geht, kann üblicherweise auf einen Amtsbonus an den Wahlurnen hoffen. Doch Olaf Scholz‘ zweite Kandidatur für das Bundeskanzleramt dürfte die Ausnahme von dieser Regel sein. Nach dem Bruch der Koalition haben sich die Zufriedenheitswerte mit seiner Arbeit zwar leicht verbessert, sind aber immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Besonders unangenehm für Scholz: Nicht einmal unter den SPD-Anhänger ist eine Mehrheit der Meinung, er sei ein guter Kandidat.
In der SPD hält man sich daran fest, dass auch Friedrich Merz die Herzen nicht unbedingt reihenweise zufliegen. Vor allem dann, wenn der CDU-Chef sich mal wieder mit einer Äußerung große Teile des Landes gegen sich aufgebracht hat („kleine Paschas“, „Sozialtourismus“). Jeder Tag, den der Wahlkampf länger dauert, ist eine weitere Chance für Merz einen Fehler zu machen. Darauf hofft man in der SPD. Und schließlich, erinnern sich die Sozialdemokraten, hätte auch zu Beginn des letzten Bundestagswahlkampfs kaum jemand gedacht, dass Scholz Kanzler wird, und er wurde es trotzdem.
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Christian Lindner
Ums Kanzleramt bewirbt sich der FDP-Chef zwar nicht. Aber den Job als Finanzminister, aus dem ihn der Bundeskanzler erst in dieser Woche entlassen hat, den würde Christian Lindner nach eigenem Bekunden nach der Wahl gern weitermachen. Die Aussichten darauf sind allerdings aktuell sehr gering – die Liberalen müssen nach dem abrupten Ende der Ampel-Koalition bangen, ob überhaupt der Wiedereinzug in den Bundestag gelingt.
Friedrich Merz
Es könnte nicht besser laufen für Friedrich Merz – zumindest auf den ersten Blick. Die Union liegt in den Umfragen stabil über 30 Prozent, die Wahrscheinlichkeit, dass der CDU-Mann am Wahlabend als Sieger dasteht, ist so groß wie nie. Die Sehnsucht der Deutschen nach einer neuen Regierung ist massiv, die Mehrheit wünscht sich schnelle Neuwahlen, keine Hängepartie. Und auch aus Bayern kommt derzeit solider Rückenwind. Am kommenden Mittwoch will CSU-Chef Markus Söder sogar tun, was Ministerpräsidenten ganz selten tun: Er will im Bundestag reden – der Kanzler soll die geschlossene Wucht der Union zu spüren bekommen. Auf den zweiten Blick aber ist Merz noch lange nicht im Kanzleramt angekommen.
Je später die Neuwahlen stattfinden, desto unkontrollierbarer wird für ihn die Lage: Scholz kündigte zwar am Freitagnachmittag an, über den Zeitplan noch einmal sprechen zu wollen, doch ob am Ende wirklich ein früherer Termin steht, ist völlig offen. Käme es erst im Frühjahr zu Neuwahlen, kann sich die Stimmung bis dahin durchaus noch mal verändern. Donald Trump im Amt, eine rot-grüne Minderheitsregierung, die keine schweren Fehler mehr machen kann, Robert Habeck als echter Gegenentwurf zu Merz – alles das sind Faktoren, die Merz‘ Wahlchancen beeinflussen können. Auch deshalb will Merz Neuwahlen – so schnell wie möglich.
Sahra Wagenknecht
Es ist eine steile Karriere. Erst seit Anfang des Jahres hat Sahra Wagenknecht überhaupt eine eigene Partei, der sie vorsteht, jetzt kokettiert sie schon mit der Idee einer Kanzlerkandidatur. Wenn selbst die Grünen mit 10 Prozent einen Kanzlerkandidaten küren, sagte Wagenknecht vor knapp zwei Wochen dem „Stern“, dann entstehe ein gewisser Druck. „Wir schauen, wo wir als BSW nächstes Jahr stehen, und werden dann entscheiden.“
Für eine junge Partei steht das BSW mit zweistelligen Ergebnissen bei drei Landtagswahlen zwar ziemlich gut da. Bei sechs bis acht Prozent in den bundesweiten Umfragen ist im Moment der Weg zur Fünf-Prozent-Hürde allerdings kürzer als ins Kanzleramt. Dazu kommt die Frage nach möglichen Koalitionspartnern: Schon auf Länderebene, wo Außenpolitik eigentlich keine Rolle spielt, haben die Positionen des BSW in den Verhandlungen mit CDU und SPD zum Teil für heftige Verwerfungen geführt. Auf Bundesebene ist die Beteiligung des BSWs derzeit nahezu ausgeschlossen.
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Alice Weidel
Alice Weidel hat den Machtkampf in der AfD gewonnen. Sie hat sich durchgesetzt gegen Mit-Parteichef Tino Chrupalla. Weidel hat sich aber auch behauptet gegen Kritiker und Gegner in der Partei. Sie soll Kanzlerkandidatin der in weiten Teilen rechtsextremen Partei werden. Beschlossen ist das noch nicht, doch ist einhellig in der AfD-Spitze zu hören, dass eine Nominierung auf dem Parteitag Anfang des Jahres reine Formsache ist.
Alice Weidel ist mächtig – und hat doch keine Machtoptionen. Denn die AfD selbst ist isoliert. Die CDU hat ein Bündnis auf Bundesebene ausgeschlossen, Grüne und SPD sowieso. Die AfD reagiert darauf mit unterschiedlichen – fast widersprüchlichen – Strategien: Einerseits inszeniert sich Weidel als „Ausgegrenzte“, als „Opfer“ einer „Politik der Brandmauer“. Andererseits wettern AfD-Spitzenpolitiker immer wieder gegen die „Alt-Parteien“, die „Etablierten“, sprechen von einem „Kartell“. Programmatisch setzt die AfD vor allem auf ein Thema: eine verschärfte Migrationspolitik. Auch hier ist die Partei unter Druck, denn allein mit dem Thema wird Weidel nicht in einen Wahlkampf ziehen in Zeiten, in denen die Flüchtlingszahlen nach Deutschland deutlich sinken.
Die Linke hat noch nicht erklärt, wer als Spitzenkandidat oder -kandidatin in den Wahlkampf ziehen soll. Erst an diesem Sonntag soll das bekanntgegeben werden. Wer auch immer es wird, hat gemeinsam mit den neuen Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken eine schwierige Aufgabe vor sich: Die Linke steht aktuell bei drei bis vier Prozent in den Umfragen und muss um den Wiedereinzug ins Parlament bangen.