Berlin. In der Ukraine tobt ein Kampf um Licht und Wärme. Das Worst-Case-Szenario im Winter: Millionen Flüchtlinge. Eine Studie zeigt Lösungen auf.

Ständig greift Russland die ukrainische Energieversorgung an. Vor dem Krieg konnte die Ukraine bis zu 32 Gigawatt Strom erzeugen. Heute sind es gerade mal neun Gigawatt, so das „Royal United Services Institute for Defence and Security Studies“ (RUSI).

Der älteste „Think-Tank“ der Welt malt in einer aktuellen Studie ein düsteres Szenario: Ein strenger Winter mit Temperaturen im zweistelligen Minusbereich könnte dazu führen, dass weitere „Millionen Ukrainer in Europa Zuflucht suchen“. Allerdings halten die Experten auch fest, dass ein solches Szenario „alles andere als unvermeidlich“ sei.

Ukraine: Zentralbank kalkuliert mit Hunderttausenden Flüchtlingen

Die Frage ist nicht, ob die Massenflucht anhält, sondern wie stark. Kürzlich hat die Zentralbank in Kiew prognostiziert, dass in diesem Jahr voraussichtlich 400.000 Ukrainer ihr Land verlassen werden, im nächsten Jahr womöglich weitere 300.000. Auch die Bank mahnte, die Entwicklung werde aufgrund der weitgehenden Zerstörung des Energiesystems verschärft. Die Menschen wollen nicht im Dunkeln sitzen und frieren. Genau darauf legt es Russland aber an, auf eine gezielte Demoralisierung.

Sabotage wie die Zerstörung von zivilen Zielen ist Teil der hybriden Kriegführung, einer Kombination regulärer und irregulärer politischer, wirtschaftlicher, medialer, subversiver, geheimdienstlicher, cybertechnischer und militärischer Kampfformen. Der russische Oberbefehlshaber, General Waleri Wassiljewitsch Gerassimow, ist ein Vordenker. Er hat 2013 darüber geschrieben und sie 2014 bei der Eroberung der Krim auch schon vorgeführt. In Militärkreisen war schon mal von der „Gerassimov-Doktrin“ die Rede.

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Nach Russlands Angriff: Glück im Unglück – Milde Kriegswinter

Im Sommer sind Stromausfälle ärgerlich – richtig bedrohlich hingegen im Winter. Den Truppen von Kremlchef Wladimir Putin sei es gelungen, die Wärmekrafterzeugung zu verringern. „Die Wasserkraftwerke sind robuster, aber ihre Erzeugungskapazität kann nicht wesentlich ausgeweitet werden.“

Arbeiter in einem Kraftwerk versuchen, Schäden zu reparieren, die nach ukrainischen Angaben nach einem russischen Angriff entstanden sind.
Arbeiter in einem Kraftwerk versuchen, Schäden zu reparieren, die nach ukrainischen Angaben nach einem russischen Angriff entstanden sind. © DPA Images | Evgeniy Maloletka

Die Städte haben oft zentralisierte Systeme für Wasser, Abwasser, Heizung. Wenn die Rohre gefüllt sind, der Strom für die Heizung aber ausfällt, kann das Wasser gefrieren. Die Folge: Die Rohre können platzen, ganze Gemeinden ohne Heizung dastehen. Die ersten Kriegswinter waren mild, zum Glück. Präsident Wolodymyr Selenskyj kann sich jedoch nicht darauf verlassen, dass es so bleibt.

Bisher „schonen“ die Russen die Kernkraftwerke

Das kleinere Problem ist die Stromversorgung, das größere die Leitung des Stroms durch die Netze. Laut „RUSI“ bestand vor der Invasion mehr als die Hälfte des Stroms aus vier Atommeilern. Das Kernkraftwerk Saporischschja haben die Russen erobert. Die übrigen Meiler wurden bislang nicht direkt angegriffen. Umso mehr nahmen die Russen die Umspannwerke ins Visier. Solche Angriffe stören die Energieverteilung und stellen laut „RUSI“ indirekt auch „ein ernstes Risiko für die nukleare Sicherheit dar“:

  • Die Trennung von der externen Stromversorgung kann Reaktorsysteme beeinträchtigen;
  • Wenn die Energie nicht in das Stromnetz eingespeist werden kann, sei der sichere Betrieb der Anlage gefährdet;
  • in der Folge kommt es zu Notabschaltungen.

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Ukraine-Krieg: Der schlimmste Fall ist vermeidbar

Eine Massenflucht lässt sich nach Analyse der britischen Fachleute vermeiden, wenn die Partner im Westen helfen, das Energiesystem zu reparieren, zu schützen und neu aufzubauen. Da die Zahl der Knotenpunkte im Stromnetz sinkt, wird es immer wichtiger, wichtige Ziele zu schützen. „Es ist noch Zeit, die schlimmsten Risiken zu vermeiden.“ 

Erste Maßnahme: Mehr Luftabwehrsysteme, insbesondere Patriot-Batterien. Luftabwehr allein werde aber nicht verhindern, dass Umspannwerke und andere kritische Teile des Systems beschädigt werden. Es sei ohnehin unwahrscheinlich, „dass die Partner der Ukraine in der Lage sein werden, ausreichend zusätzliche Luftabwehrkapazitäten bereitstellen“.

Zweitens, ein besserer passiver Schutz rund um die Umspannwerke.

Drittens, Gaskolbenmotoren oder Gasturbinen für ukrainische Gemeinden. Die Ukraine verfüge über beträchtliche Reserven. Kleine Gasmodule könnten dezentral eine Grundversorgung sicherstellen und helfen, die Zeiten zu überbrücken, wenn das größere Netz unterbrochen ist oder repariert werden muss.

Viertens, die Lieferung und Bevorratung von Transformatoren, die mit dem ukrainischen Energienetz kompatibel sind; im Wesentlichen Material aus dem ehemaligen Ostblock sowie Japan und Südkorea.

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Ukraine steht ein harter Winter steht bevor

„Unterm Strich steht der Ukraine ein harter Winter bevor, aber es gibt die Mittel und die Zeit, um ein Worst-Case-Szenario zu verhindern“, heißt es in der Rusi-Studie. Laut UN-Schätzungen werden 2024 mindestens 6,7 Millionen Ukrainer im Ausland leben. Experten zufolge hat die Ukraine zwischen 28 und 34 Millionen Einwohner – 41 Millionen waren es vor dem Krieg. Der Rückgang erklärt sich durch Flucht, Gebietsverluste, eine niedrige Geburtenrate und viele Todesopfer.

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