Berlin. Der nächste Bundestag wird deutlich kleiner als der jetzige. Die Reform der Koalition geht in Karlsruhe aber nicht komplett durch.
Die Bundesrepublik leistet sich das größte frei gewählte Parlament der Welt. Bei der kommenden Bundestagswahl aber wird die Volksvertretung deutlich schrumpfen: Von derzeit 733 Mandaten auf nur noch 630. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärte am Dienstag weite Teile der umstrittenen Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition für rechtens, nur an einer wichtigen Stelle mahnte es Änderungen an. Ein Überblick.
Was hat das Gericht entschieden?
Doris König, Vorsitzende des Zweiten Senats, hatte bei der Verkündung des Urteils am Dienstag zwei Kernbotschaften. Die erste: Das grundlegende Prinzip der Wahlrechtsreform der Ampel aus dem vergangenen Jahr ist verfassungsgemäß. Im Zentrum der Änderung steht, dass in Zukunft das Zweitstimmenergebnis entscheidend ist für die Zahl der Mandate, die eine Partei im Bundestag erhält. Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen holt, ist damit nicht mehr automatisch im Parlament. Eine solche Neuerung kann der Gesetzgeber einführen, sagt das Gericht. Damit entfallen künftig wie geplant alle Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstanden bislang, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Sitze gewann, als ihr nach dem Anteil der Zweistimmen zustanden. Um eine Benachteiligung der anderen Parteien zu verhindern, erhielten diese dann Ausgleichsmandate.
Wo stellte Karlsruhe jetzt ein Stoppschild auf?
Was nicht geht - das war die zweite Botschaft – ist die in der Ampel-Reform vorgesehene Abschaffung der Grundmandatsklausel, während gleichzeitig die Fünf-Prozent-Hürde bestehen bleibt. Die Grundmandatsklausel regelte bisher, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate gewinnt, in Höhe ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einzieht, auch wenn dieses unter fünf Prozent liegt. Sie milderte damit die Fünf-Prozent-Hürde.
Das Gericht argumentierte, dass die Fünf-Prozent-Hürde dem Zweck dient, eine Zersplitterung des Bundestags zu verhindern und so die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen. Das ist grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, geht in der aktuellen Form aber an einer Stelle zu weit – nämlich da, wo es um die CSU geht. Weil die im Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU bildet, trägt aber auch eine CSU mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen nicht zur Zersplitterung des Parlaments bei. Hier sieht das Gericht deshalb Bedarf für Änderungen.
Was gilt für die nächste Wahl?
Für die Bundestagswahl 2025 kann das neue Wahlrecht mit dieser Entscheidung gelten – ergänzt um die Grundmandatsklausel, wie sie vorher bestand. Wie es danach weitergeht, ist eine Frage von politischen Einigungen. Denn das Problem, dass das Gericht im Hinblick auf die Fünf-Prozent-Hürde aufgeworfen hat, lässt sich auf mehrere Arten lösen: Indem man die Hürde senkt – zum Beispiel auf drei oder vier Prozent. Oder indem der Gesetzgeber die Grundmandatsklausel auf Dauer wieder einführt. Aus der Ampel-Koalition kamen nach dem Urteil bereits Signale, dass man das Thema vor der Bundestagswahl nicht mehr anfassen will.
Wer ist Verlierer dieser Neuregelung?
Diejenigen Wahlkreiskandidaten, die nach dem alten System ein Überhangmandat gewonnen hätten – nach dem neuen System aber nicht genug Stimmen haben, um eines jener Mandate zu bekommen, die ihrer Partei nach den Zweitstimmen zustehen. Zu den Verlierern zählen auch Listen-Kandidaten von Parteien, die viele starke Wahlkreiskandidaten haben. Denn Wahlkreisgewinner werden bei der Vergabe der Sitze an Parteien zuerst berücksichtigt. Erst dann zieht die Liste.
Ist der Bundestag wirklich zu groß?
Das bisherige System der Überhangs- und Ausgleichsmandate blähte den Bundestag in der Vergangenheit von Wahlperiode zu Wahlperiode immer weiter auf. Vorgesehen waren eigentlich nur 598 Abgeordnete. 2005 gab es 614 Parlamentarier, vier Jahre später 622, danach 631 und in der Wahlperiode ab 2017 dann 709. Jetzt hat der Bundestag 733 Mitglieder – wobei sich bei der vergangenen Bundestagswahl im Herbst 2021 schon bemerkbar machte, dass die Große Koalition im Jahr davor bereits eine (sehr behutsame) Wahlrechtsreform beschlossen hätte. Ohne diese wäre der Bundestag noch größer, als er nun ist.
Andere westliche Demokratien haben kleinere Volksvertretungen: Das US-Repräsentantenhaus etwa hat 435 Mitglieder, die die 335 Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten vertreten. In der französischen Nationalversammlung sitzen 577 Abgeordnete bei einer Einwohnerzahl von rund 68 Millionen.
Welche Reaktionen gibt es?
Die Unionsfraktion im Bundestag forderte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts am Dienstag die Ampel-Koalition auf, noch in dieser Wahlperiode eine neue Reform zur Verkleinerung des Parlaments zu beschließen. Dabei müsse gewährleistet sein, dass der siegreiche Kandidat eines Wahlkreises in jedem Fall in den Bundestag einziehe, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) dieser Redaktion. „Der Respekt vor dem Votum der Wähler muss oberste Priorität besitzen“, sagte Frei.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte dieser Redaktion: „Mit seinem Urteil schafft das Bundesverfassungsgericht Klarheit. Die Grundmandatsklausel ist ein wichtiger Baustein für ein demokratisches und vielfältiges Parlament.“ Das habe Karlsruhe deutlich gemacht und sei damit der Verfassungsbeschwerde der Linken und der CSU gefolgt.
Die Ampel sieht sich nach dem Karlsruher Urteil im Grundsatz bestätigt. „Das Wichtigste steht nach diesem Urteil fest: Die Verkleinerung des Deutschen Bundestags ist vollbracht und verfassungsgemäß“, sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese.
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