Berlin. Am Dienstag verkündet das Verfassungsgericht, ob das neue Wahlrecht rechtmäßig ist. Experten rechnen mit einer Klatsche in einem Punkt.
2021 leuchtete die bayerische Landkarte CSU-blau: Mit Ausnahme eines Münchner Wahlkreises hatten die Christsozialen in sämtlichen Wahlkreisen des Freistaats die meisten Erststimmen bekommen und ihre Kandidaten damit Tickets nach Berlin.
Doch wenn im kommenden Jahr erneut das Parlament gewählt wird, könnte das nicht mehr genug sein. Denn nach dem neuen Wahlrecht der Ampel könnte die CSU in jedem Wahlkreis in Bayern vorn liegen, und am Ende trotzdem nicht im Bundestag sein.
Ob das verfassungsgemäß ist, hat in den vergangenen Monaten das Bundesverfassungsgericht überprüft. Am Dienstag wird es seine Entscheidung in der Sache bekannt geben. Worum es geht und was das Urteil bedeutet.
Wie funktioniert die Wahlrechtsreform der Ampel?
Die Reform der Ampel ist ein Versuch, das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate zu lösen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach ihrem Anteil der Zweitstimmen zustehen würden. Damit das Verhältnis der Zweitstimmen gewahrt bleibt, mussten diese bisher um Ausgleichsmandate für die anderen Parteien ergänzt werden. Statt 598, wie eigentlich vorgesehen, hat der aktuelle Bundestag deshalb 733 Mitglieder.
Das Modell der Ampel löst das, in dem es der Zweitstimme – also der Stimme für eine Partei statt einen Kandidaten – mehr Gewicht gibt. Überhangmandate würden danach einfach wegfallen. Die Kandidaten, die in ihren Wahlkreisen mit dem schlechtesten Ergebnis vorn lagen, würden nicht mehr ins Parlament einziehen.
- Politik-News: Die wichtigsten Nachrichten des Tages aus der Bundespolitik im Blog
- Podcast: Habeck sieht „Seelenverwandtschaft“ mit Selenskyj
- Neue Zahlen: Nebeneinkünfte im Bundestag – Das sind die Top-Verdiener
- „Ärgerlich und gefährlich“: Die Grünen und das Thema Israel
- 10 Jahre Pegida: Wie der „Startschuss“ von AfD & Co. nachhallt
Gleichzeitig haben SPD, Grüne und FDP die sogenannte Grundmandatsklausel abgeschafft. Die hat bisher geregelt, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate gewinnt, in der Höhe ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einzieht – auch wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen bekommen hat. Davon hat 2021 die Linke profitiert, die nur 4,9 Prozent der Stimmen hatte, aber drei Direktmandate.
Das passt zur Grundidee der Reform, sagt Staatsrechtler Florian Meinel von der Universität Göttingen, der Teil des Teams war, das den Ampel-Beschluss vor Gericht vertreten hat. „In einem System, in dem die Zweitstimme Vorrang hat, macht eine Grundmandatsklausel eigentlich logisch keinen Sinn.“ Aber eine Abschaffung betreffe mit der Linken und der CSU – die 2021 bundesweit nur knapp mehr als fünf Prozent erhielt – in erster Linie zwei Oppositionsparteien. „Das war eine wahlsystematisch richtige, aber zugleich sehr riskante Entscheidung, denn damit hat sich das Reformprojekt insgesamt politisch leicht angreifbar gemacht.“
Wer hat gegen das Ampel-Wahlrecht geklagt?
Eine ganze Reihe von Akteuren: die Bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der Unions-Fraktion im Bundestag, die CSU und die Linke als Parteien, Bundestagsabgeordnete der Linken plus mehr als 4000 Privatpersonen.
Wie argumentieren die Gegner der Reform?
Es gibt verschiedene Kritikpunkte an dem 2023 beschlossenen Wahlrecht. Ein Argument lautet, dass es undemokratisch sei, wenn die Person, die im Wahlkreis die meisten Stimmen als Direktkandidat erhält, nicht mehr sicher davon ausgehen kann, gewählt zu sein. Nach dem neuen Wahlrecht wäre auch nicht mehr zwingend jeder Wahlkreis über einen Abgeordneten im Bundestag vertreten.
Die Union führt an, dass nach dem Ampel-Modell die CSU in Bayern alle Direktmandate gewinnen könnte – und trotzdem nicht im Bundestag wäre, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen bundesweit erhält. Das sei „eine groteske Verzerrung des Wählerwillens“, sagt Thorsten Frei, erster parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, dieser Redaktion.
Linken-Politiker Gregor Gysi, der seinen Wahlkreis 2021 direkt gewann, sieht noch ein anderes Problem: Würde er bei der kommenden Wahl wieder die meisten Stimmen erhalten, die Linke aber weniger als fünf Prozent, wäre er nicht im Bundestag. Sollte er aber als unabhängiger Kandidat antreten und dasselbe Ergebnis bekommen, hätte er einen Sitz. „Das ist doch absurd“, sagte Gysi dieser Redaktion. „Das ist eine völlig unverhältnismäßige Ungleichbehandlung von unabhängigen und Parteikandidaten.“
Wie könnte eine Entscheidung am Dienstag aussehen?
Beteiligte an der Verhandlung vermuten eine Entscheidung, bei der Karlsruhe nicht die ganze Reform für verfassungswidrig erklärt, aber Nachbesserungen fordert. Konkret könnte es da um die Grundmandatsklausel gehen. In der bisherigen Rechtsprechung habe das Gericht zwar immer gesagt, dass die Grundmandatsklausel verfassungsrechtlich nicht zwingend sei, sagt Staatsrechtler Meinel. „In Kombination mit der Fünfprozenthürde könnte ein Wegfall aber heißen, dass die Chancen von kleinen und regionalen Parteien aus Sicht des Gerichts zu stark beschnitten werden.“
Um das zu korrigieren, könnte entweder die Grundmandatsklausel wieder eingeführt werden – oder aber die Fünfprozenthürde wird auf drei oder vier Prozent abgesenkt.
Wie geht es danach weiter?
Das hängt davon ab, wie das Urteil des Gerichts genau aussieht, ob es auf einer Nachbesserung besteht und wenn ja, wie konkret es diese schon in der Entscheidung ausformuliert.
Der Zeitplan zum Nacharbeiten ist jedenfalls knapp: In der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause im September wird der Haushalt für 2025 beraten, ein Gesetzentwurf für eine Reform der Reform würde deshalb frühestens Ende des Monats zum ersten Mal im Bundestag beraten. Mit einer Fristverkürzung könnte der Bundesrat dann frühestens Mitte Oktober zustimmen. Damit bliebe weniger als ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl. Internationale Empfehlungen sehen eigentlich keine Änderungen am Wahlrecht so knapp vor der Wahl vor.
„Wenn das Gericht dem Bundestag den Auftrag gibt, die Reform anzupassen, sind wir dazu rechtzeitig vor der kommenden Bundestagswahl in der Lage, auch wenn nicht viel Zeit bleibt“, sagt Till Steffen, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, dieser Redaktion. „Wenn die Union sich dann beteiligen möchte, stehen wir dem nicht im Weg.“
CDU-Politiker Thorsten Frei ist skeptisch, ob rechtzeitig eine Änderung beschlossen werden könnte. „Aber selbstverständlich wären wir sofort bereit, mit der Ampel über die Konsequenzen des Urteils zu sprechen“, sagt er.