Düsseldorf/Duisburg. Das Endgültige Endergebnis der Europawahl 2024 für NRW liegt vor. Für den Duisburger Politik-Forscher Karl-Rudolf Korte macht es Mut.
Die Europawahl 2024 ist Geschichte, die nächsten Wahlen nahen in Deutschland. Im September werden die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Für NRW liegt inzwischen auch das endgültige Endergebnis der Europawahl vor. Darin zu finden ist auch diese Zahl: Mehr als 4,8 Millionen Wahlberechtigte hatten sich nicht beteiligt. Wie ist die Zahl zu bewerten? Fragen an den Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Governance, an der Universität Duisburg-Essen:
4,842 Millionen von insgesamt etwas mehr als 13,1 Wahlberechtigten in NRW haben sich an der jüngsten Europawahl nicht beteiligt: Wie interpretieren Sie diese Zahl angesichts der wachsenden Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie?
Prof. Karl-Rudolf Korte: Die Beteiligung war höher als bei der letzten Wahl. Das Interesse an der Wahl war sogar um zehn Prozentpunkte höher als vor fünf Jahren.
Aber hätte man nicht mit noch mehr Interesse an der Wahl rechnen können, mit Blick auf die Sorgen um unsere Demokratie, die viele Menschen bei uns seit Anfang des Jahres zum Protest auf die Straße gebracht hat?
Korte: Die Wucht der Masse auf der Straße signalisierte im Frühjahr einen sozialen Kipppunkt: hohe Solidarität auf der Straße für das Grundgesetz. Das war ein großes Demokratieerlebnis für unzählige Nachbarschaften. Sehr viele Folge-Ideen haben sich danach durchgesetzt, die in den Kommunen und in den Firmen umgesetzt wurden. Die Politisierung war ein Zeichen der politischen Mitte, die jetzt laut und aufmerksam ist.
Die AfD hat bei der Wahl an Zuspruch gewonnen, während viele Wähler zuhause geblieben sind...
Korte: Die Wahlen haben pro-europäisch mit großer Mehrheit eine Richtung vorgegeben. Der demokratische Aufbruch hat gewirkt. Rund 84 Prozent haben für Parteien der politischen Mitte und proeuropäisch gewählt. Ich sehe insofern durchaus Radikalisierungen, aber keine Rechtsruck, der das Parlament und die Institutionen der EU maßgeblich verändert.
Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Gründe, wenn Menschen ihr Wahlrecht nicht nutzen?
Korte: Nichtwähler haben heterogene Gründe, warum sie sich nicht einbringen. Entscheidend ist, dass es eine soziale Schieflage gibt: Bildungsferne und ärmere Schichten beteiligen sich weitaus weniger als die anderen.
Inwieweit drückt sich aus der Höhe der Wahlbeteiligung so etwas aus wie Vertrauen in politische Parteien im Allgemeinen und Unterstützung für das bestehende politische System?
Korte: Wahlen sind ein Vertrauensbarometer in die Demokratie. Das hat sich auch bei der Europawahl gezeigt: Die politische Mitte ist proeuropäisch stark gewählt worden - das sollten man nicht vergessen. Vermutlich werden sogar die Größenverhältnisse der Fraktionen von Platz 1 bis 3 die gleichen sein, wie fünf Jahre zuvor.
Bei der Europawahl 2014 gab es mehr als 6,3 Millionen Nichtwähler, 2019 etwas über 5 Millionen: Wie würden Sie diese Entwicklung interpretieren mit Blick auf das Verständnis und das Bewusstsein um die Bedeutung des Themas Europa?
Korte: Ich sehe überhaupt keine Abnahme des Interesses, sondern eher eine Zunahme. Diesmal stellte sich für viele Wähler auch die Demokratiefrage, die politisiert beantwortet wurde, zugunsten der europäischen Integration. Die Wahl war eine Antwort auf die Provokation der Freiheit durch Putin und den Krieg.
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Der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz sagt in seiner jüngst veröffentlichten Schrift „Tu was!“, 60 bis 70 Prozent Übereinstimmung mit einer Partei würden genügen, um Mitglied einer demokratischen Partei zu werden. Bei Wahlen kann man den Eindruck haben, Parteien müssten zu 100 Prozent die eigene politische Auffassung erfüllen, sonst werden sie nicht gewählt. Inwieweit ist Kompromissbereitschaft bei der Wahlentscheidung nötig?
Korte: Verlustängste und Status-Ängste führen zur Wahl von radikalen Parteien. Das resultiert auch Verwundungserfahrungen und Verlassenheitsgefühlen. Es lohnt sich insofern für Parteien der politischen Mitte in die Zukunft zu investieren, mit Zuversicht für die Mitte. Das ist nicht einfach, weil viele Angst um das Erreichte haben und sich deshalb gerne auch gegen etablierte Parteien entscheiden. Aber die Erkennbarkeit der Parteien ist nach wie vor gegeben, das zeigen Studien eindeutig. Es reicht zur Wahlentscheidung aus, die Problemlösungskompetenz einer Partei oder des Spitzenkandidaten für Zukunftsprobleme hoch einzuschätzen. Es sind konkrete Probleme, die anstehen, keine Wahlprogramme.