Berlin. SPD-Chefin Saskia Esken sagt, welche Konsequenzen sie aus dem Wahlerfolg der AfD zieht – und wer Kanzlerkandidat werden soll.

Saskia Esken lässt sich nicht anmerken, dass ihre Partei einen rabenschwarzen Wahltag hinter sich hat. Sie nimmt stilles Wasser und macht einen Scherz. Im Interview sagt die SPD-Chefin, was die Niederlage für die politische Zukunft von Olaf Scholz bedeutet.

Die SPD hat ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Europawahl eingefahren und ist hinter die AfD auf Platz drei zurückgefallen. Welche Konsequenzen ziehen Sie?

Saskia Esken: Das ist wirklich ein schmerzliches Ergebnis, es gibt da nichts schönzureden. Wir werden eine tiefe Analyse vornehmen, die Wählerwanderungen und unsere Aufstellung im Wahlkampf einschließt und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. 

Ahnen Sie, was dabei herauskommt? 

Ich habe die klare Analyse, dass wir die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten nicht erreicht haben. Das gibt uns zu denken. Wir müssen herausfinden, woran das liegt. Man beklagt in solchen Lagen gern die schlechte Kommunikation, aber das erklärt das Wahlergebnis nicht allein.

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Frankreichs Präsident Macron hat – nach einer vergleichbaren Niederlage – nicht lange analysiert, sondern Neuwahlen ausgerufen. Traut sich Olaf Scholz das nicht?

Emmanuel Macron hat die Nationalversammlung aufgelöst. Nach der französischen Verfassung kann der Präsident unabhängig vom Ausgang einer Parlamentswahl im Amt bleiben. Ich halte den Vorschlag, vorgezogene Neuwahlen in Deutschland abzuhalten, geradezu für verantwortungslos. Man muss doch sehen, in welcher Situation wir uns befinden mit all der Verunsicherung und den drängenden Problemen, die wir zu lösen haben. Die SPD-geführte Bundesregierung hat die Aufgabe, den Blick nach vorn zu richten. Wir brauchen einen neuen Aufbruch. 

Scholz könnte die Vertrauensfrage im Bundestag stellen, um sich neue Legitimation zu holen.

Der Kanzler hat im Parlament drei starke Fraktionen hinter sich, die ihm in den vergangenen Tagen ganz klar das Vertrauen ausgesprochen haben. Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern müssen vorankommen bei der Digitalisierung, der Infrastruktur, beim Klimaschutz und der Transformation der Wirtschaft. Dafür sind erhebliche Investitionen erforderlich. 

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    Moment! Ihre Vorgängerin Andrea Nahles ist 2019 mit einem besseren Europawahl-Ergebnis zurückgetreten. Und jetzt passiert gar nichts?

    Wir haben in der Vergangenheit viel zu oft das Auswechseln des Spitzenpersonals für eine Initialzündung gehalten – und dann hat sich doch wenig verändert. In den vergangenen fünf Jahren haben wir etwas Neues und Wertvolles geschaffen: die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Partei, Regierung und Fraktion der SPD. Ich bin überzeugt, dass es uns gelingen wird, das Vertrauen der Bevölkerung wiederzuerlangen. 

    Sie haben Investitionen angesprochen und die Bundeswehr noch gar nicht erwähnt. Woher soll das Geld dafür kommen? 

    Für die Bundeswehr haben wir das Instrument eines Sondervermögens ja bereits angewendet und müssen uns nun überlegen, wie es weitergeht, wenn die 100 Milliarden aufgebraucht sind. Grundsätzlich wäre dieses Instrument auch auf andere Bereiche anwendbar.

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    Und zwar?

    Wir müssen alle Investitionen, die in die Zukunft gerichtet sind, mit einer anderen Brille betrachten als die laufenden Ausgaben. Die Forderungen des BDI-Präsidenten nach massiven Investitionen des Staates in unsere Infrastruktur oder das Bildungswesen in den kommenden Jahren sind ein deutliches Signal der Wirtschaft. Ich unterstütze diese Forderungen. Dafür brauchen wir idealerweise eine Reform der Schuldenbremse. Dieser Meinung sind viele Ökonomen und auch einige Ministerpräsidenten, die nicht unserer Partei angehören. Wir sollten uns an der schwäbischen Hausfrau orientieren. Wenn es zum Dach hereinregnet, wäre sie niemals so dumm, auf eine Reparatur zu verzichten, nur weil sie das Geld gerade nicht parat hat. Sie weiß, dass sonst viel Substanz kaputtgeht. 

    Finanzminister Lindner lehnt neue Schulden rundheraus ab. Ist der Haushalt die Sollbruchstelle der Koalition?

    Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die Haushaltsberatungen bis Anfang Juli erfolgreich abschließen. Die Reform der Schuldenbremse ist aber wohl eher kein Thema für den Haushalt 2025. Um das Grundgesetz zu ändern, brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. An dieser Mehrheit arbeiten wir mit Argumenten, aber nicht gegen die Koalition.

    Sie könnten auch sparen - zum Beispiel bei der Rente mit 63 …

    Wer ein Leben lang gearbeitet hat, soll seinen Ruhestand genießen und gut über die Runden kommen. Mit uns ist weder eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit noch ein Ende der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren machbar. Für die allermeisten liefe das auf eine Rentenkürzung hinaus, weil sie einfach nicht mehr arbeiten können und dann eben mit Abschlägen in den Ruhestand gehen.

    Sie argumentieren, als gäbe es keinen Fachkräftemangel. 

    Der Fachkräftemangel ist mit einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit sicher nicht zu beheben. Wenn es darum geht, länger zu arbeiten, dann sagen wir: Jeder kann, keiner muss. Unternehmen, die ihre Beschäftigten dazu motivieren wollen, über die Ruhestandsgrenze hinaus freiwillig länger zu arbeiten, müssen ihnen Arbeitsplätze bieten, die körperlich und mental nicht so belastend sind. Wenn wir den Fachkräftemangel beheben wollen, müssen wir neben der gezielten Zuwanderung von Fachkräften vor allem dafür sorgen, dass alle jungen Menschen unsere Schulen mit einem Abschluss verlassen und eine berufliche Ausbildung machen können. Und wir müssen die Erwerbsbeteiligung der Frauen steigern! Dazu müssen wir allerdings die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Alte verbessern, damit in den Familien beide Partner nahe Vollzeit arbeiten und sich die Familienarbeit partnerschaftlich teilen können. 

    Klingt nicht, als könnte sich die Ampel auf ein weiteres Rentenpaket verständigen. 

    Eine Rentenreform, die Empfänger von Grundsicherung und Geringverdiener besserstellt, können wir gerne vereinbaren. Veränderungen bei der Lebensarbeitszeit lehnen wir ab. 

    Eine solche Reform können Sie frühestens in der nächsten Wahlperiode durchsetzen. Ist es beschlossene Sache, dass die SPD mit Scholz als Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl zieht? 

    Wir haben die Bundestagswahl 2021 auch deshalb gewonnen, weil die Menschen Zutrauen in die Führungsfähigkeiten von Olaf Scholz haben. Seine Vizekanzlerschaft hat gezeigt, dass er Deutschland auf der internationalen Bühne gut vertritt. Auch die Grundhaltung einer Respektgesellschaft, die sich in der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und in dem Versprechen einer stabilen Rente niederschlug, hat die Menschen überzeugt. Dieses Zutrauen hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren im Umgang mit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg bewahrheitet. Die Belange der Menschen, die mit ihrer Arbeit unser Land am Laufen halten, sind bei Olaf Scholz und der SPD gut aufgehoben. Es geht um Sicherheit und Kontinuität. Für uns ist klar, dass Olaf Scholz der richtige Kanzlerkandidat auch für die nächste Bundestagswahl ist.

    Scholz war zur Europawahl auf vielen Plakaten zu sehen - aber nach der Niederlage duckte er sich weg. Finden Sie das führungsstark? 

    Der Bundeskanzler hat sehr deutlich gemacht, dass wir nicht zur Tagesordnung übergehen können. Das Erschreckende ist doch: Viele Menschen trauen weder uns noch der größten Oppositionspartei zu, die Probleme zu lösen. Olaf Scholz und die Regierung haben erkannt, dass die Zusammenarbeit in der Ampel viel zu häufig von öffentlichem Streit geprägt war. Uns ist es nicht gut gelungen, Orientierung und Sicherheit zu geben. 

    Verteidigungsminister Pistorius wäre der aussichtsreichere Kanzlerkandidat, das zeigen die Umfragen. Beeindruckt Sie das nicht? 

    Boris Pistorius ist ein hervorragender Verteidigungsminister. Daher würden wir ihn gerne über die Bundestagswahl hinaus in diesem Amt sehen. 

    Im Herbst finden Landtagswahlen im Osten statt. Wie wollen Sie verhindern, dass die AfD – wie jetzt bei den Kommunalwahlen – stärkste Kraft wird?

    Auch wenn die Zahlen im Osten besonders beeindruckend sind, ist die Zustimmung zu antidemokratischen Parteien kein reines Ost-West-Thema. In meinem Wahlkreis im Schwarzwald hat die AfD fast 20 Prozent geholt. Und wir beobachten in ganz Europa das Erstarken von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten.

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    Ergo?

    Vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg müssen wir deutlich machen, dass die Schein-Lösungen der AfD unser Land nicht nach vorne bringen. Ihre Konzepte für eine nationalstaatliche Ausrichtung unserer Wirtschaft würden unser Land ruinieren und Millionen von Arbeitsplätzen vernichten. Die Hochwasserkatastrophen und Hitzesommer, die nun immer häufiger auftreten, zeigen auf, welche Schäden bis hin zu Menschenleben die Ignoranz der AfD gegenüber der Klimakrise bedeuten würde. Und auch ihre Haltungen zu Arbeitsmarkt und Steuergerechtigkeit zeigen ganz klar auf: Diese Partei vertritt nicht die Interessen des sogenannten kleinen Mannes, sondern sie ist eine Partei der reichen Eliten.

    Das sagen Sie schon eine ganze Weile – ohne Erfolg. Vielleicht wollen sich die Menschen nicht belehren lassen ...  

    Das ändert nichts an der Herausforderung. Wir müssen diejenigen erreichen, die sich Sorgen machen um ihren Arbeitsplatz oder keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Die Menschen sollten ihr Heil nicht in denen suchen, die unser Land in den Ruin treiben. 

    Ist es klug, AfD-Politiker als Nazis zu beschimpfen? 

    Führende Köpfe der AfD folgen einer völkischen Ideologie und wollen ganze Menschengruppen aus der Gesellschaft ausgrenzen oder sogar deportieren. Man muss sehr deutlich machen, wohin solche Konzepte uns führen. Ich habe selbst einige Anzeigen am Hals, weil ich die AfD als Nazi-Partei bezeichnet habe. Wir müssen aber deutlich machen: Eine Machtübernahme dieser Partei, die mit rechtsradikalen Kräften und mit Autokraten in aller Welt paktiert, wäre eine Katastrophe für unser Land.

    Warum zögern Sie mit einem AfD-Verbotsantrag?

    Ein Parteiverbot ist das letzte Mittel in einer Demokratie. Die Hürden sind zu Recht sehr hoch. Wir haben Erfahrungen gemacht mit dem Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens. Gleichwohl: Wenn eine Partei unsere demokratische Ordnung zerstören will und dazu auch die Möglichkeiten hat, dann sollten wir uns wehrhaft zeigen. Dann sollten Bundestag, Bundesregierung oder Bundesrat ein Verbotsverfahren beim Bundesverfassungsgericht beantragen.

    Nach den Ost-Wahlen dürfte es nicht einfach werden, Mehrheiten jenseits der AfD zu finden. Kommt für die SPD ein Bündnis mit der Wagenknecht-Partei infrage? 

    Diese Partei ist gerade erst gegründet worden und fällt vor allem mit einem starken Personenkult um ihre Namensgeberin auf. Was das Wagenknecht-Bündnis für die genannten Bundesländer darüber hinaus an Programmatik zu bieten hat, kann ich bisher nicht erkennen. Unsere Landesverbände im Osten brauchen meinen Rat aber nicht. Sie werden klug entscheiden, mit wem sie zusammenarbeiten. 

    Und auf Bundesebene? Sehen Sie die Wagenknecht-Partei als möglichen Partner? 

    Wir haben noch Zeit, uns ein Bild zu machen. Mehr als die Zerstörung der Linkspartei ist Wagenknecht bisher nicht gelungen. Wir beobachten allerdings eine große Nähe zu dem autokratischen Kriegsverbrecher Wladimir Putin. Das zeigt auch das kollektive und respektlose Fernbleiben nicht nur der AfD, sondern auch der BSW-Abgeordneten bei der Rede des ukrainischen Präsidenten im Bundestag. Ich habe daher meine Zweifel, ob man das Wagenknecht-Bündnis als demokratische Partei bezeichnen kann. Eine Zusammenarbeit sehe ich sehr skeptisch. 

    Wie sehen Ihre persönlichen Pläne aus? Werden Sie ein weiteres Mal für den Bundestag kandidieren?

    Ja, ich werde wieder kandidieren.