Berlin. Die Ampel-Parteien erleben einen schweren Wahlabend. Das hat Folgen – für die Regierung und möglicherweise auch für Kanzlerträume.

Um 18 Uhr entfährt einigen Sozialdemokraten ein qualvolles Seufzen. Danach ist es gespenstisch still im Atrium des Willy-Brandt-Hauses. Die SPD erlebt ein historisch schlechtes Ergebnis. Eine „bittere Niederlage“, räumt SPD-Parteichef Lars Klingbeil ein. Es sei ein „richtig bitterer Abend“, sagt Spitzenkandidatin Katarina Barley mit brüchiger Stimme. 

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Weniger als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler hat sich dafür entschieden, bei der Europawahl einer der Ampel-Parteien ihre Stimme zu geben. Das Wahlergebnis ist ein Desaster für die Koalition, vor allem für SPD und Grüne – und ein Absturz mit Ansage. Bei der FDP sind die Ansprüche inzwischen so gesunken, dass die Liberalen dem Wahlausgang etwas Positives abgewinnen können. „Wir haben ein Ergebnis gehalten“, freute sich FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. „Das ist eine wirklich, wirklich gute Nachricht.“

Die Europawahl als bundesweite Abstimmung ist ein Stimmungstest für die Bundestagswahl im kommenden Jahr – so war das auch im Kreis der Wahlkampfmanager der Parteien gesehen worden. Bei der Analyse des Wahlabends sind daher nicht nur die Ergebnisse der Europawahl vor fünf, sondern auch der Bundestagswahl vor drei Jahren von Bedeutung.

Die SPD liegt sogar hinter der AfD

Die Partei von SPD-Kanzler Olaf Scholz ist an diesem Abend nur drittstärkste Kraft und liegt deutlich hinter der Union und sogar der AfD. Die Sozialdemokraten haben wohl noch schwächer abgeschnitten als bei der Europawahl 2019, als die SPD mit 15,8 Prozent ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis bei einer Europawahl holte. Sie liegen zudem deutlich unter ihrem Ergebnis der siegreichen Bundestagswahl 2021 (25,7 Prozent). CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wittert die Schwäche des Kanzlers und fordert Scholz am Wahlabend auf, die Vertrauensfrage zu stellen.

FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die FDP hat mit ihrer bekanntesten Politikerin als Spitzenkandidatin, der kantigen Strack-Zimmermann, ein Ergebnis geholt, das bei der nächsten Bundestagswahl knapp für den Wiedereinzug in den Bundestag reichen könnte. Immerhin, die Umfragen der letzten Zeit sahen auch schlechter aus. Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die FDP allerdings noch mehr als elf Prozent der Stimmen geholt.

Die Grünen erleben eine heftige Enttäuschung. „Das ist nicht der Anspruch, mit dem wir in diese Wahl gegangen sind“, sagt Parteichefin Ricarda Lang ratlos. Die Grünen haben nicht nur im Vergleich zu 2019 massiv an Zuspruch verloren, sie liegen auch deutlich unter dem Ergebnis der Bundestagswahl. Trotz immer häufiger auftretender Wetterkapriolen und Überschwemmungen spricht die Partei mit ihrem Kernthema Klimaschutz offenbar nur einen harten Kern der Wählerschaft an.

Die Debatte um das Heizungsgesetz haftet den Grünen an

Die Debatte um das Heizungsgesetz haftet an der Partei – das sind auch schlechte Nachrichten für den dafür verantwortlichen Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Ambitionen auf die grüne Kanzlerkandidatur hat. Das Ziel Kanzleramt scheint an diesem Abend in weiter Ferne.

Ernste Gedanken müssen sich aber auch die SPD-Strategen und Amtsinhaber Scholz machen: Ihre Kampagne war erkennbar ein Testlauf für den Bundestagswahlkampf. Neben blass gebliebenen Spitzenkandidatin Barley blickte an Kreuzungen und Hauptverkehrsstraßen der Kanzler den Bürgern von den Wahlplakaten entgegen. „Wir müssen bei uns selbst auf die Fehlersuche gehen“, räumt Wahlkampfmanager Kevin Kühnert ein.

Die Slogans waren auf Olaf Scholz und das von der Parteizentrale gewünschte Image des Kanzlers zugeschnitten: „Klarer Kurs in stürmischen Zeiten“, hieß es da oder „Besonnen handeln“. Die Sätze sind die auf den Punkt gebrachte Essenz der oft wesentlich komplizierteren Beschreibungen, die Olaf Scholz selbst von seinem Kurs besonders in der Ukraine-Politik liefert. Die auch in der SPD geführte Debatte, ob nicht doch der beliebte Verteidigungsminister Boris Pistorius der bessere Kanzlerkandidat wäre, bekommt mit dem Wahlausgang neue Nahrung – auch wenn Kühnert am Wahlabend versucht, die Diskussion auszubremsen.

Der Koalition stehen schwere Wochen bevor

Dass aber Scholz nun erkennbar einen anderen Gang einlegt, ist nicht zu erwarten. Schon bei früheren Tiefschlägen hätten sich Beteiligte gewünscht, dass der Kanzler nicht nur in der nächsten Regierungserklärung einmal emotional, nahbar und empathisch wirkt, sondern grundsätzlich einen anderen Politikstil pflegt. Vor einigen Monaten war innerhalb des Ampel-Bündnisses zudem die Rede davon, ob der Kanzler nicht mit einer Kabinettsumbildung noch einmal frischen Wind erzeugen könnte.

Ergeht es Scholz wie Nahles? SPD fürchtet neues Chaos

Doch das ist nicht der Stil von Olaf Scholz. Stoisch zog der Kanzler nach all den kleinen und großen Krisen seinen Stiefel durch, was bei anderen Sozialdemokraten zu Schulterzucken führte nach dem Motto: Er ist wie er ist, was sollen wir machen. Aus Sicht des Kanzlers ist sein bestes Argument, wenn er gut regiert. Dann werde er vor der nächsten Wahl schon wieder das Vertrauen der Wähler haben, lautet die Erklärung, besonders wenn es gegen den bisweilen sprunghaften CDU-Chef Friedrich Merz gehe.

Doch mit dem guten Regieren ist das so eine Sache: Der Koalition stehen schwere Wochen bevor. Einige Beispiele für offene Konflikte allein aus den vergangenen Tagen: Scholz will verurteilte Schwerkriminelle auch in die Krisenstaaten Syrien und Afghanistan abschieben, die Grünen haben größte Zweifel daran, dass diese Ankündigung umzusetzen ist. Habeck will das deutsche Lieferkettengesetz pausieren – wiederum zum Entsetzen der SPD.

In der Koalition dürften nun alle Partner auf sich selbst schauen

Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner verweist die Sozialdemokraten demonstrativ auf die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, weil die SPD im Konflikt um den nächsten Bundeshaushalt zu seinem Ärger immer wieder höhere Steuern oder ein Aussetzen der Schuldenbremse fordert. Bis Anfang Juli soll der Etat stehen, doch die Positionen liegen weit auseinander. Dass die FDP nach diesem Wahlabend im Ringen um den Haushalt kompromissbereiter werden könnte, ist nicht zu erwarten.

Nach der Serie von schlechten Ergebnissen bei Landtagswahlen seit dem Start der Ampel-Regierung reagierte die FDP stets damit, ihre Positionen noch energischer zu vertreten. Für die Haushaltsverhandlungen dürfte das bedeuten, dass sich Scholz und Habeck auf einen Finanzminister Lindner gefasst machen können, der sich durch das Ergebnis des Abends in seinem Kurs bestätigt sieht.

Ohnehin dürfte das Regieren nun unruhiger werden – wenn das in dieser Koalition und angesichts der vielfältigen Krisen noch möglich ist. Mehr erkennbare SPD-Erfolge, weniger Ampelkompromisse, das wünschen sich schließlich auch viele Sozialdemokraten vom Kanzler. „Unsere Leute wollen uns kämpfen sehen“, sagt Parteichef Klingbeil. Das gelte auch für die Haushaltsverhandlungen. Die Ampel steht vor einem ernsten Belastungstest. Anderthalb Stunden nach Schließung der Wahllokale schiebt sich Scholz durch den SPD-Wahlabend. Geduldig macht er Fotos mit Parteimitgliedern. Den Wahlausgang kommentieren will der Kanzler aber nicht.

Lindner pocht bei SPD im Haushaltsstreit auf Koalitionsvertrag

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