Berlin. Die Europawahl 2019 stürzte die SPD in die Krise. Dieses Mal ist vieles anders, doch Kanzler Olaf Scholz drohen ungemütliche Debatten.

Beim Gedanken an die letzte Europawahl läuft es manchen in der SPD noch heute kalt den Rücken runter. Die Sozialdemokraten erreichten am 26. Mai 2019 mit 15,8 Prozent nicht nur ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis bei einer Europawahl. Eine Woche später trat auch die Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles von ihren Ämtern zurück. Und die SPD stürzte ins Chaos. Rückblickend räumten führende Sozialdemokraten ein, dass sie sich damals nicht sicher waren, ob die SPD diese Krise überlebt.

Drei Interimsvorsitzende übernahmen damals zunächst die Parteiführung. Aus einer monatelangen Kandidatensuche gingen der von den Jusos bekämpfte Olaf Scholz schwer beschädigt und das damals einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Sieger hervor. Wenn damals jemand außerhalb des direkten Umfelds von Scholz geschworen hätte, dass die SPD zwei Jahre später mit Scholz an der Spitze die Bundestagswahl gewinnt, wäre er ausgelacht worden.

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In einer vollkommen anderen Lage als damals ist die SPD heute allerdings nicht. Bei der Europawahl am Sonntag muss die Partei aufgrund der letzten Umfragen befürchten, nicht viel stärker abzuschneiden als mit den historisch schlechten 15,8 Prozent vor fünf Jahren. Läuft es schlecht, liegen die Sozialdemokraten sogar darunter: Bei 14 bis 15 Prozent sehen die Meinungsforschungsinstitute die SPD kurz vorm Wahltag. Läuft es ganz schlecht, könnte die Kanzlerpartei hinter Union, AfD und Grünen sogar nur viertstärkste Kraft werden.

Europawahl: SPD droht neuer Tiefstand – und ein Nahles-Moment

Erlebt die SPD dann einen erneuten Nahles-Moment? Nein, nein, heißt es dazu in diesen Tagen aus der Partei. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil seien bei den Genossen beliebt und fest im Amt – anders als die zum Schluss bei manchen Sozialdemokraten regelrecht verhasste Andrea Nahles. Zudem sei die SPD-Bundestagsfraktion nicht mehr die Schlangengrube von damals. Nach zweieinhalb Jahren steht die Fraktion immer noch erstaunlich geschlossen da, obwohl es für die Ampel-Koalition nicht gut läuft und viele Abgeordnete darum bangen müssen, nach der kommenden Bundestagswahl wieder ins Parlament einzuziehen.

Umfrage: Union mit Abstand stärkste Kraft bei Europawahl

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    Diese Unsicherheit und der Unmut über ein schlechtes Ergebnis könnten nach der Europawahl den Kanzler treffen, heißt es in der Partei. Scholz hat sich gemeinsam mit Europaspitzenkandidatin Katarina Barley für die Wahlplakate der SPD ablichten lassen. Das Wahlergebnis wird auch das Ergebnis des Kanzlers sein, zumal die Europawahl der letzte bundesweite Stimmungstest vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr ist. Je schlechter die SPD am Sonntag abschneidet, desto größer dürfte der Druck aus der Partei auf den Kanzler werden, sozialdemokratische Positionen in der Ampel-Koalition durchzusetzen.

    Katarina Barley im Interview: „Bei einem Rechtsrutsch droht ein anderes Europa“

    Derzeit verhandelt Scholz mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) über einen Sparhaushalt für das kommende Jahr. Die vorherrschende Meinung in der SPD ist, dass die Schuldenbremse erneut ausgesetzt werden solle, um die Ausgaben für die Ausrüstung der Bundeswehr und die Unterstützung der Ukraine zu stemmen, ohne einen Kahlschlag in anderen Bereichen vornehmen zu müssen. Zum Schrecken vieler in der SPD scheint Scholz bislang aber Finanzminister Lindner zu unterstützen, der dies strikt ablehnt.

    Kanzler-Kritik: Jusos sagen jetzt, was sie von Olaf Scholz erwarten

    Bisher hielt sich die Partei mit Kritik am Kanzler zurück. Der Parteinachwuchs benennt jetzt jedoch klar die Erwartungen an Scholz. „Wir erleben einen allgemeinen Pessimismus in unserer Gesellschaft, insbesondere bei jungen Menschen“, sagt Juso-Chef Philipp Türmer dieser Redaktion. „Günstiger Wohnraum, gute Bildung, gute Jobs auch in Zeiten der Klimakrise und Investitionen in unsere Wirtschaft – das muss der Anspruch für den Rest der Legislatur sein.“ Die drohenden Haushaltskürzungen stünden dem jedoch entgegen. „Deshalb muss die ganze SPD insbesondere innerhalb der Bundesregierung den neoliberalen Hirngespinsten des Finanzministers eine Absage erteilen“, fordert Türmer.

    Franz Müntefering (SPD), ehemaliger Vizekanzler, spricht bei bei der traditionellen „Spargelfahrt“ des Seeheimer Kreises, Scholz sitzt vor ihm und hört zu.
    Franz Müntefering (SPD), ehemaliger Vizekanzler, spricht bei bei der traditionellen „Spargelfahrt“ des Seeheimer Kreises, Scholz sitzt vor ihm und hört zu. © DPA Images | John Macdougall

    Ein schlechtes Europawahlergebnis dürfte zudem die Debatte darüber befeuern, ob Scholz wirklich der Richtige für die nächste Kanzlerkandidatur ist – oder vielleicht doch eher der in Umfragen sehr beliebte Verteidigungsminister Boris Pistorius. Die Diskussion wird beileibe nicht nur von Journalisten geführt, wie es manche in der SPD darstellen. Aufhorchen ließ kürzlich der in der Partei immer noch hoch verehrte frühere Vorsitzende Franz Müntefering: Es sei parteiintern „noch nicht beantwortet“, wer 2025 zur Bundestagswahl von der SPD als Spitzenkandidat aufgestellt werde, sagte Müntefering dem „Spiegel“.

    Müntefering zur nächsten Bundestagswahl: „Wie gehen wir da rein?“

    Zu Beginn der Woche auf einem Boot auf dem Tegeler See im Westen Berlins. Der pragmatische Seeheimer Kreis in der SPD-Bundestagsfraktion hat zur traditionellen Spargelfahrt geladen. EU-Spitzenkandidatin Barley ist da, Parteichef Klingbeil, natürlich Scholz. Und Franz Müntefering, der eine kurze Rede hält.

    „Die Wahlen in den nächsten beiden Jahren werden prägend sein für zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre in diesem Land“, sagt der Ex-Vorsitzende. Erst gehe es um Europa, um die Kommunen, dann um die Landtagswahlen im Osten und schließlich um die Bundestagswahl. „Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir da rein? Was sagen wir den Menschen?“, mahnt die Parteilegende. Scholz sitzt vor ihm. Müntefering erwähnt ihn mit keinem Wort.