Berlin. Viele haben das Gefühl, noch nie sei so viel gestreikt worden wie heute. Aber das täuscht. Besonders ein Name erschütterte das Land.
Wenn der Chef der Lokführergewerkschaft, Claus Weselsky, heute der unumstrittene Buhmann der deutschen Öffentlichkeit ist, so hatte diese Rolle in den 1970er-Jahren der Bundesrepublik ein Mann namens Heinz Kluncker. Der Vorsitzende der mächtigen Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, eine Vorgängerin der Gewerkschaft Verdi) führte seine Mitglieder vor 50 Jahren, im Februar 1974, in einen Arbeitskampf, der die politische Statik der Bundesrepublik erschütterte.
Viele haben in diesen Tagen zwar das Gefühl, noch nie sei so viel gestreikt worden wie heute, aber das täuscht. Anfang der 1970er geriet der lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung in Westeuropa ins Stocken. Der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten hatte zur ersten Ölkrise und einem Wachstumseinbruch in der Bundesrepublik mit öffentlichen Sparprogrammen und heftigen Preissteigerungen geführt. Die Inflationsrate für 1974 wurde mit über zehn Prozent berechnet. Die Gewerkschaften reagierten mit entsprechenden Lohnforderungen, nachdem es in der Industrie schon inoffizielle, wilde Streiks gegeben hatte.
Mehr zum Thema: GDL-Streiks sorgen für Hunderte zusätzliche Autobahn-Staus
Die ÖTV verlangte in den Augen vieler unerhörte 15 Prozent, aber mindestens 185 Mark mehr Lohn im Monat, 300 Mark Urlaubsgeld, einen Zuschlag von 50 Mark für jedes Kind. Unübersehbare Stimme und Gesicht dieser Forderungen war der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker, ein Mann von beeindruckender Statur, redegewandt und unerschrocken angesichts eines Sturms der Entrüstung, der ihm aus Politik, Wirtschaft und den meisten Medien entgegenblies. Eine Welle von Warnstreiks unterstrich die Bereitschaft der Beschäftigten, für die Forderung zu kämpfen.
200.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gingen in den Streik
Als erste Verhandlungen mit einem Arbeitgeberangebot von 9,5 Prozent zu keinem Erfolg führten, rief Kluncker seine über eine Million Mitglieder zum Streik auf – 91 Prozent votierten in der Urabstimmung mit Ja. Im Unterschied zur kleinen Spartengewerkschaft GDL war die ÖTV in der ganzen Breite des öffentlichen Dienstes verankert und stellte schon deshalb einen echten Machtfaktor dar.
Der folgende Streik war mit drei Tagen kurz, aber heftig. Die ÖTV ließ mehr als 200.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor allem in den Großstädten die Arbeit verweigern: Busse und Bahnen blieben in den Depots, viele Ämter geschlossen, der Müll wurde nicht abgeholt. Vor allem Letzteres erregte in der damals noch stets gut durchgekehrten Republik die Gemüter. Angesichts der allgemeinen Preissteigerungen konnten sich Kluncker und seine Leute aber auch auf Sympathien in der Bevölkerung verlassen. In der Politik herrschte hingegen pure Empörung.
CDU-Generalsekretär Biedenkopf verlangte, dass Tarifabschlüsse vom Parlament genehmigt werden müssten. Die sozial-liberale Bundesregierung des Kanzlers Willy Brandt wollte mindestens die von ihr ausgegebenen Lohnrichtlinien eingehalten sehen, was bedeutete: ein Abschluss unter zehn Prozent. Nun bekam der Tarifkonflikt eine politische Dimension, personifiziert in den beiden SPD-Mitgliedern Brandt und Kluncker.
Ende des Streiks: „Heinz Kluncker zwang seine Verhandlungspartner in die Knie“
Der ÖTV-Vorsitzende erklärte später: „Da ging der Konflikt nicht mehr nur um das Geld, sondern um das Eingemachte. Hätten wir uns dieser Leitlinie damals gebeugt, wäre die Tarifautonomie demontiert worden.“ Denn wenn ein Regierungschef, wer immer das sei, sage, kein zweistelliges Ergebnis, dann müsse „eine Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, kämpfen, und das ist geschehen“. Mit Erfolg: Die Tarifparteien einigten sich auf Druck der Kommunen, die den Ärger der Bürgerinnen und Bürger unmittelbar zu spüren bekamen, schließlich auf elf Prozent mehr Lohn und Gehalt, mindestens jedoch 170 Mark.
Doch der Arbeitskampf und sein Ergebnis hatten eben auch eine politische Dimension. Klaus Harpprecht, ein enger Berater Brandts, stellte 1999 in der Rückschau fest: „Niemand hat einst die Autorität der Regierung Willy Brandts – immerhin der ersten sozialdemokratischen Kanzlerschaft in der Geschichte der Bundesrepublik – auf unheilvollere Weise untergraben als die ÖTV. Heinz Kluncker zwang seine Verhandlungspartner mit rücksichtsloser Resolutheit in die Knie, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Inflationsgefahr, die Energiekrise, auf das Ansehen der Bundesregierung und des Kanzlers zu verschwenden. Kluncker wollte die Kapitulation. Und er bekam sie. (…) Das war der Anfang vom Ende der Kanzlerschaft Brandts. Den dicken Kluncker kümmerte das nicht.“
Willy Brandt tritt zurück, doch nicht wegen des Streits
Der wies eine politische Verantwortung zurück. Natürlich gehöre es zu den Aufgaben eines Gewerkschaftsvorsitzenden, die gesellschaftlichen Folgen seines Handelns zu bedenken. Aber: „Ich wusste die übergroße Mehrheit der Mitglieder definitiv hinter mir. (…) Ich konnte den Mitgliedern in die Augen sehen. Und viele Angehörige des öffentlichen Dienstes, auch außerhalb unserer Gewerkschaft, haben mir immer wieder zu verstehen gegeben, wie wirksam ich ihre Interessen vertreten hätte.“ Das habe ihm geholfen, Hetze und Verleumdungen zu überstehen.
Auch interessant: Wellenstreik bei der Bahn: Das steckt hinter dem GDL-Plan
Der Bundeskanzler aber blieb beschädigt zurück. „Der Ansehensverlust war mir bewusst und fiel doch noch dramatischer aus als erwartet“, notierte er in seinen Erinnerungen. Er habe seinen Rücktritt nur nicht erklärt, um noch größere Erschütterungen zu vermeiden. Wenige Wochen später trat Willy Brandt dann doch zurück, nach Enttarnung des in seinem Umfeld beschäftigten DDR-Spions Günter Guillaume.
- Politik-News: Die wichtigsten Nachrichten des Tages aus der Bundespolitik im Blog
- Podcast: Habeck sieht „Seelenverwandtschaft“ mit Selenskyj
- Neue Zahlen: Nebeneinkünfte im Bundestag – Das sind die Top-Verdiener
- „Ärgerlich und gefährlich“: Die Grünen und das Thema Israel
- 10 Jahre Pegida: Wie der „Startschuss“ von AfD & Co. nachhallt