Berlin. Schlimme Zustände an deutschen Hochschulen: Jüdische Studierende berichten von ihrer Angst, Lehrende von erschreckenden Vorfällen.
Wer Ende Januar auf dem Weg in einen der Hörsäle der Technischen Universität Dortmund war, bekam schon in der Bahnstation „Universität“ die Hetze zu Gesicht. An die Wand unter dem Schild hatte jemand eine Israel-Flagge mit Davidstern gesprüht. In den Stern verwoben: ein Hakenkreuz. Dazu der Slogan auf Englisch: „Die Ironie, dass du wirst, was du einst gehasst hast“.
Israel, so schlimm wie damals die Nationalsozialisten, die Millionen Menschen in Gaskammern systematisch töteten – es ist ein gängiger Propaganda-Topos von Juden-Feinden, die ihren Antisemitismus in vermeintliche Kritik am Staat Israel verpacken. Die Polizei Dortmund ermittelt wegen Sachbeschädigung – und Volksverhetzung.
Die Schmiererei in Dortmund ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es zu antisemitischen Delikten an deutschen Hochschulen. Immer wieder werden jüdische Studierende beschimpft oder bedroht, manchmal sogar angegriffen – wie zuletzt der Student Lahav Shapira in Berlin. Ermittler gehen von einer gezielten Attacke aus.
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Seit dem Krieg zwischen Israel und der islamistischenHamas spitzt sich der Nahost-Konflikt zu. Nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in Deutschland. Tausende Menschen demonstrieren, mal für die Rechte der Palästinenser, mal gegen den Terror der Hamas. Wenn die Lage eskaliert, muss die Polizei einschreiten. Und zunehmend werden auch Universitäten zum politischen Schlachtfeld. Und immer wieder zum Ort antisemitischer Parolen.
Antisemitismus an Universitäten: Aktivisten setzen jüdische Studierende unter Druck
Unsere Redaktion hat mit betroffenen jüdischenStudierenden gesprochen, mit Dozentinnen und Professoren, die judenfeindliche Stimmung an ihrem Lehrstuhl erleben, mit pro-israelischen Aktivisten – und mit Sicherheitsbehörden, die wenig sagen, weil sie offenbar wenig wissen darüber wissen, wie der Nahostkonflikt gerade an den Hochschulen ausgetragen wird.
Die Gespräche zeichnen ein Bild, in dem pro-palästinensische Aktivisten antisemitische Parolen nicht nur auf Demonstrationen vor der Mensa verbreiten, sondern jüdische Studierende auch in Messenger-Gruppen unter Druck setzen, weil sie einen vermeintlich jüdischen Namen oder einen Davidstern in ihrem Profilbild haben. Einzelne jüdische Studierende, die sich politisch organisieren, veröffentlichten Drohanrufe von Unbekannten.
Der pro-israelische Aktivist Lior Steiner aus Berlin schildert dieser Redaktion, wie er als „rechter Zionist“ und „Völkermord-Unterstützer“ beschimpft werde. Wie er Drohungen in den sozialen Medien oder per Handynachricht erhalte. Wie Unbekannte ihm schreiben würden: „Ich weiß, wo du studierst“ oder „Ich finde dich“. Er belegt seine Aussagen mit Screenshots. In einer Nachricht heißt es: „Es gibt ein paar Aussagen, die du getätigt hast, die meinen Jungs und mir nicht gefallen. Deshalb kommen wir mal vorbei.“ Eine andere droht: „We will hunt you as a wolf!“ Sie wollen ihn jagen.
Kommentare, die „antisemitisch, antimuslimisch“ sind
Es ist ein Extremfall. Und doch kein Einzelfall. An deutschen Hochschulen wächst ein Klima, in dem einzelne Lehrenden beschimpft werden – und in dem freundschaftlich unter Kollegen geraten wird, doch lieber die Raumnummer für die Vorlesung über das Judentum nicht öffentlich zu machen, oder gleich ein Seminar online abzuhalten. Eine Zeit, in der sich Jüdinnen und Juden an Universitäten nicht mehr sicher fühlen, Angst vor dem Weg nach Hause nach der Vorlesung haben. Vor allem sind es Konflikte, in denen mehrere junge Menschen berichten, dass sie keinen Rückhalt von der Universitätsleitung bekommen, wenn es Antisemitismus bis in den Hörsaal schafft.
Im Fokus immer wieder: Die Freie Universität Berlin, die FU – und deren Leitung um Präsident Günther M. Ziegler. Der Vorwurf ist, Ziegler unternehme zu wenig und wenn, dann erst zu spät etwas gegen Antisemitismus an seiner Uni. „Herr Ziegler hat als Präsident der FU Berlin leider nicht die notwendige Empathie für jüdische Studierende gezeigt, indem er völlig inakzeptable Vorfälle immer wieder verharmlost hat“, sagt der Beauftragte der Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, unserer Redaktion.
Klein nennt vor allem die Verbreitung von antisemitischen Hetzschriften auf dem Universitätsgelände. Mittlerweile hat die Hochschulleitung reagiert, will einen Antisemitismus-Beauftragten berufen, eine Beschwerdestelle einrichten, schneller Hausverbote erteilen.
Gerade erst gab es zudem ein Treffen des Uni-Präsidenten mit jüdischen Studierenden. Auf Anfrage unserer Redaktion heißt es nun, dass die Universität Kenntnis von Äußerungen in den sozialen Medien habe, die „die Persönlichkeitsrechte verletzten, antisemitisch, antimuslimisch, rassistisch oder in anderer Form diskriminierend“ sind. „Ebenso wurden Hass und Hetze gegenüber Personen oder Personengruppen gemeldet.“ In vielen Fällen seien Beiträge trotz Meldung an den Plattform-Betreiber nicht gelöscht worden.
Antisemitismus an Universitäten ist kein Berliner Problem
Doch Antisemitismus ist kein Berliner Problem. Unserer Redaktion liegt eine Liste mit einem guten Dutzend Fällen vor, in denen Studierende antisemitische Schmierereien oder Aktionen beobachten. Nicht alles lässt sich überprüfen, aber vieles ist durch Medienberichte bekannt. Einige Beispiele:
- An der Uni Kassel wollten Ende Oktober Studierende den mutmaßlich antisemitischen Film „Gaza Fights For Freedom“ zeigen. Im letzten Moment untersagt der Studierendenausschuss die Veranstaltung. Bei einer anschließenden Demonstration gegen die Entscheidung kam es zu Parolen wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ – ein Slogan, der Israel das Existenzrecht abspricht.
- Studierende an einer Universität in Baden-Württemberg berichten von einem Studenten-Café, in dem Plakate von toten israelischen Soldaten aufgehängt worden sein sollen.
- Und auch unter den Forschenden finden sich einzelne radikale Parolen: Das Max-Planck-Institut in Halle trennte sich unlängst von einem Gastwissenschaftler, der die Terrorangriffe der Hamas am 7. Oktober öffentlich verherrlicht hatte.
Klar ist: Die Mehrheit der Studierenden kritisiert Antisemitismus, viele demonstrieren gegen Judenhass und für Israel. Auch Professorinnen und Professoren stemmen sich auch öffentlich gegen Hetze. Und doch ist es eine Minderheit an radikalen Demonstrierenden, die Besorgnis und Angst bei jüdischen Studierenden auslöst.
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Vor allem zwei linke, marxistische Gruppen fallen auf: zum einen „Young Struggle“. Eine Jugendorganisation, die Nachrichtendienste dem Spektrum der „Anti-Imperialisten“ in der extremistischen Szene zurechnen. Israel ist für sie ein „imperialistisches Projekt“. „Solidarität“ zeigte die Gruppe auch mit „Samidoun“, ein pro-palästinensisches Netzwerk, das mittlerweile ein Aktionsverbot in Deutschland hat, weil es laut Innenministerium „Jubelfeiern“ nach den Anschlägen vom 7. Oktober veranstaltet hat und „Israel vernichten“ will. Für die Verbündeten von „Young Struggle“ ist die Universität einer der wichtigsten Räume für Protestaktionen.
Hochschulen werden zu Schauplätzen des „Klassenkampfes“
Gleiches gilt für „Klasse gegen Klasse“, mit ihrer Hochschulgruppe „Waffen der Kritik“. Sie organisiert Demonstrationen, gründete das „Unikomitee für Palästina“ mit, etwa in München. Bei einer Kundgebung im Dezember schwenkten viele Menschen Palästina-Flaggen, auf einer anderen warfen sie Israel „Apartheid“ vor.
Es sind Organisationen, die die Hochschulen zu Schauplätzen ihres „Klassenkampfes“ erklären. Sie diffamieren pro-israelische Kundgebungen als „zionistisch“ und sehen sich selbst einer „Hetze“ ausgesetzt. Sie wollen auch an den Universitäten gegen „alle ideologischen Produktionen, die den israelischen Staat schönreden und seine Verbrechen verschleiern“, angehen. Die extremen Linken empfinden sich selbst als Kämpfer auch gegen Antisemitismus – und sind doch auch diejenigen Gruppen, die jüdische Studierende immer wieder nennen, wenn sie von Anfeindungen und einem Klima des Hasses sprechen.
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An der FU Berlin wurde „Waffen der Kritik“ nun ins Studierendenparlament gewählt, als zweitstärkste Kraft. Pro-israelische Aktivisten wie Steiner sagen: „Das wird für uns gefährlich.“ Mit dem Massaker an Jüdinnen und Juden und den Bombardierungen des Gaza-Streifens durch Israel als Reaktion eskaliert ein Konflikt. Auch in Deutschland.
So nehmen es auch jüdische Menschen wahr, mit denen unsere Redaktion sprechen konnte. Einige der Pro-Israel-Stimmen radikalisieren sich ebenfalls. So geriet Steiners Organisation der „Jewish Life Berlin“ in die Kritik, weil ein Mitglied bei einer Demonstration Hassparolen gegen Palästinenser verbreitet hatte. Steiners Organisation schmiss ihn nach Presseberichten über den Vorfall raus.
Kritik an Vorgehen Israels kippt immer wieder in Judenhass
Das Problem ist nicht der Protest. Weder gegen die Hamas noch gegen das israelische Vorgehen in Gaza. Anlass zu Wut und Angst gibt es: Israelis wurden hingerichtet, viele sind noch in Geiselhaft. Zugleich leiden Hunderttausende Palästinenser unter den Angriffen der israelischen Armee, sind getötet, vertrieben, müssen hungern. Israels Regierung steht massiv unter Feuer. Auch von Seiten vieler Jüdinnen und Juden.
Doch schnell kippt die Kritik an Israel auf den Demonstrationen immer wieder in Hetze gegen Jüdinnen und Juden. Immer wieder wird Israel das Existenzrecht abgesprochen. Die Sicherheitsbehörden aber wissen kaum etwas darüber, wie sich Studierende radikalisieren – und teilweise mit islamistischen Organisationen zusammenarbeiten. Auf Nachfrage unserer Redaktion geben sowohl der Verfassungsschutz als auch das Bundeskriminalamt an, dass wenig Informationen zur Lage an den Hochschulen vorliegen würden.
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Für Polizei und Nachrichtendienste ist die Uni eine Blackbox – auch deshalb, weil die Hochschulen und Hörsäle als akademische Freiräume gelten, aus denen der Staat sich herauszuhalten hat. Doch was, wenn für manche Studierende die Freiheit zum Ort ohne Schutz wird? Der Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein fordert mehr Handeln – auch durch den Staat.
„Die Verharmlosung von Judenfeindlichkeit als vermeintliche Israel-Kritik in akademischen Kreisen muss aufhören“, sagt er unserer Redaktion. Er sieht Polizei und Ordnungsämter in der Verantwortung. „Hetze und Straftaten dürfen nicht toleriert werden. Die Hochschulleitungen müssen Antisemitismus-Beauftragte einrichten und Meldestellen schaffen.“
Student: „Ich schaue jetzt öfter, wer hinter mir läuft“
Eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle an Hochschulen gibt es bisher nicht. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, die Sicherheitsvorkehrungen an Universitäten zu erhöhen und mehr Anlaufstellen einzurichten. Das Bildungsministerium teilt auf Nachfrage mit, dass auch wissenschaftlich ein Fokus auf Antisemitismus gelegt werde – und dabei auch mit israelischen Wissenschaftseinrichtungen kooperiert werden solle.
Aus Sicht der Opposition im Bundestag reicht das nicht. „Wir haben in Deutschland inzwischen ein gewaltiges Problem mit linkem Antisemitismus an Hochschulen und in der Kulturszene, der immer offener und hemmungsloser zu Tage tritt“, sagt CDU-Politiker Christoph de Vries, der auch Berichterstatter für jüdisches Leben im Innenausschuss des Bundestags ist. De Vries fragt: „Warum gibt es keinen Aktionsplan gegen linken und islamistischen Antisemitismus?“ Er fordert „harte Sanktionen bis hin zur Exmatrikulation“, wenn Studierende antisemitisch auffallen.
Weitere Demonstrationen sind an mehreren Universitäten angekündigt. Vor wenigen Tagen brüllten pro-palästinensische Aktivisten so lange von den Rängen in einem Hörsaal der Humboldt-Universität in Berlin, bis die Veranstaltung abgebrochen werden musste. Zu Gast war die israelische Höchstrichterin Daphne Barak-Erez.
Aktivist Steiner will dennoch weitermachen, weiter demonstrieren, weiter Veranstaltungen organisieren – für Israel. Und trotzdem sagt er, dass er vorsichtiger sein wolle. „Wenn ich von der Uni nach Hause gehe, schaue ich jetzt öfter, wer hinter mir läuft.“
Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl
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