Yokoze.. 40 Prozent aller Kommunen könnten in den nächsten 30 Jahren verschwinden, weil die Menschen fehlen. Das setzt kreative Energie frei.
„Das hier war das Lehrerzimmer“, sagt Masakuni Inoue, als er mit Vorsicht einen großen Raum aus knarzenden Dielen und Holzwänden betritt. Unter der Deckenleiste hängt ein Foto des Lehrerkollegiums aus dem Jahr 2000, was noch der neueste Gegenstand hier sein dürfte. Die Uhr an der Wand ist auf zehn Minuten vor acht stehengeblieben. Auf einer alten Theke, wo einst Arbeitshefte lagerten, steht noch eine Mikrowelle aus den 1970er Jahren. Masakuni Inoue sieht sich um und lacht auf: „Dass hier Noten eingetragen wurden, ist schon etwas her.“
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Genauer gesagt sind 16 Jahre vergangen, seit die Grundschule Ashigakubo in der Kleinstadt Yokoze, eineinhalb Zugstunden nordwestlich von Tokio, das letzte Mal einen Jahrgang eingeschult hat. Im Jahr 2008 ist sie nach gut 70 Jahren Betrieb geschlossen worden. „In der Nachbarschaft leben nur noch zehn Kinder. Dafür ließ sich die Schule nicht aufrechterhalten“, erklärt Masakuni Inoue, der Vize-Bürgermeister von Yokoze. Die Entscheidung, Ashigakubo dichtzumachen, sei damals schwergefallen. „Aber es gab eben keine andere Wahl.“ Und überhaupt: „So etwas erleben ja auch nicht nur wir.“
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Die Kleinstadt Yokoze durchlebt eine für Japan typische Entwicklung: Sie schrumpft. 1995 wohnten hier gut 10.000 Menschen, heute sind es noch 7.751. Der Bevölkerungsrückgang ist so rapide, dass Yokoze wie 743 weitere Städte und Dörfer im Land offiziell als „shoumetsu kanousei toshi“ gilt – ein „vom Aussterben bedrohter Ort.“ So definiert der Thinktank Japan Policy Council jene Ortschaften, wo zwischen 2010 und 2050 die Zahl von Frauen im Alter von 20 bis 39 Jahren voraussichtlich um 50 Prozent oder mehr fallen wird. Ohne Frauen im gebärfähigen Alter kommt kein Nachwuchs mehr. Besonders rasant ist das Schrumpfen in kleineren Orten.
Yokoze als Zukunftslabor für Deutschland und Europa
So wie im bergigen Waldort Yokoze, wo man all diese Trends genau kennt. „2010 hatten wir 867 jüngere Frauen im Ort“, berichtet der Vizebürgermeister Inoue, als er durch die alte Schule schlendert. „2040 werden es nach der aktuellen Prognose noch 419 sein.“ Vor einer Simulation, wann Yokoze komplett aus den Bevölkerungsstatistiken verschwinden könnte, hütet man sich. Aber angesichts der in Japan nunmehr seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenrate sei man sich im Ort einig, sagt Masakuni Inoue: „Wir werden den Trend nicht umkehren. Yokoze wird kleiner. Schritt für Schritt.“
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Doch aufgegeben hat sich der Ort keineswegs. „Wir sehen uns hier als Zukunftslabor“, sagt Inoue. Denn die Herausforderungen, denen sich ein schrumpfender Ort stellen muss, kommen auch auf Städte und Dörfer in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu: Wie bewahrt man Infrastruktur vorm Zerfall, wenn sie von immer weniger Personen genutzt wird? Wie lässt sich sicherstellen, dass ein Ort weiterhin lebhaft wirkt, wenn zugleich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer einbrechen? Kann man mit Freude schrumpfen?
„Ein paar Lösungen haben wir schon gefunden“, prahlt Masakuni Inoue und führt stolz durch diese zweistöckige Grundschule, die keine mehr ist. Inoue deutet in ein mit Tatami-Matten ausgelegtes Zimmer, in dem früher Hauswirtschaftsunterricht stattgefunden habe. „Hier organisieren wir seit einigen Jahren jeden Monat Veranstaltungen zur traditionellen Teezeremonie. Der Raum passt dafür gut, weil er damals optisch sehr harmonisch konzipiert wurde.“
Umnutzung von Infrastruktur: Yokoze bekannt als Ort kreativer Lösungen
Als Inoue im nächsten Raum das Licht anknipst, scheinen unter grellen Leuchten dunkle Holzschränke, eine Sitzordnung alter Tische und angemalte Schiefertafeln an den Wänden. „Diesen Raum vermieten wir regelmäßig an Cosplayer.“ Ein jüngerer Mitarbeiter im Rathaus sei auf die Idee gekommen. Denn die japanische Subkultur, in der sich Fans von Anime und Manga als Helden aus virtuellen Welten verkleiden, um sich dann in möglichst originalgetreuer Pose zu fotografieren, ist auf historische Orte wie diesen angewiesen. Die kommen nämlich häufig vor in den Mangageschichten.
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Die Stadt mache damit einen kleinen finanziellen Überschuss, habe sich aber vor allem einen Namen gemacht als ein Ort kreativer Lösungen. Hiroyuki Matsumoto vom Wirtschaftsforschungsinstitut Bugin sieht Yokoze insofern als Vorbild für andere Orte: „Die Umnutzung ansonsten unnütz gewordener Infrastruktur ist hier zum Grundprinzip geworden.“ In einem Analysepapier aus dem Jahr 2019 betont Matsumoto außerdem zumindest für die japanische Öffentlichkeit: „Hiermit ist der Ort berühmt geworden.“
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Tatsächlich gibt es in Yokoze mehrere Beispiele der Umnutzung alter Infrastruktur. Zehn Autominuten von der umgenutzten Grundschule Ashigakubo entfernt liegt in der Nähe der nun einzigen noch verbleibenden Grundschule des Ortes ein altes Bankgebäude. Die Filiale wurde im vergangenen Jahrzehnt geschlossen – wie so vieles hier wegen Personenmangels. „Hier führen wir jetzt das ‚Yokolabo‘“, erklärt ein Stadtmitarbeiter an der Rezeption hinter einer Schiebetür. Yokolabo ist ein Fantasiewort für „Yokoze-Labor.“ Es ist der neue Begegnungsort der Stadt.
Neue Verfügbarkeit von Räumlichkeiten als Chance
„So einen Ort gab es hier früher nie. Die neue Verfügbarkeit von Räumlichkeiten ist insofern auch eine Chance“, sagt Masakuni Inoue. Die alte Bankfiliale gehört jetzt allen, Bewohnern wie Besuchern. Hinter einer Trennwand sind Schreibtische für einen Coworkingspace aufgebaut. Der Tresor, wo früher Bargeld hortete, dient jetzt als Kabine für Telefonkonferenzen. Die Wand zur alten Mitarbeiterküche wurde eingerissen, sodass sie nun offen ist – jeder darf sie nutzen. Ein älterer Mann kocht Reis. Eine junge Frau, die von ihrem Laptop aufgestanden ist, macht sich einen Grüntee.
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Das wenige Geld, das die Gemeinde zur Verfügung hat, wurde in die Renovierung des zweiten Stocks des alten Bankgebäudes investiert. „Wir haben einen per Computer programmierbaren Sägeroboter gekauft, damit wir kleinere Betriebe anziehen, die hier mit Yokozes Holzbeständen arbeiten können“, erklärt Inoue. Und das Projekt zeigt Erfolg: In der Werkstatt und im Coworkingspace ein Stockwerk drunter haben in den letzten sieben Jahren 234 Betriebe oder Unternehmerinnen in 141 Projekten gearbeitet. Sie kommen oft für einige Wochen, übernachten in einer Herberge neben der Ex-Bank.