Berlin. 20.000 Dollar, Willkür und Schikane. Das machen Palästinenser durch, die ihren Angehörigen bei der Flucht aus dem Gazastreifen helfen.
Die Straße vor dem grauen Bürogebäude im Kairoer Stadtteil Nasr City ist seit Wochen voller Palästinenserinnen und Palästinenser. Alle tragen kleine Taschen voll mit Bargeld und den wichtigsten Dokumenten. In den Restaurants, Cafés und dem einen Copyshop der Straße drehen sich die Gespräche nur um ein Thema: Was sind die neuesten Informationen dazu, wie können sie so schnell wie möglich ihre Angehörigen aus Gaza herausholen?
Seit fünf Monaten kämpfen die Menschen in Gaza ums Überleben. Brot wird aus Tiernahrung gebacken, sauberes Trinkwasser ist knapp und die Mehrheit der Häuser ist zerstört. Über eine Million Menschen sind nach Rafah im Süden des Gazastreifens geflohen, viele von ihnen leben in Zelten. Seit dem Angriff der radikalislamischen Hamas am 7. Oktober auf Israel führt Israel einen Krieg im Gazastreifen, der die humanitäre Lage dort zur Katastrophe hat werden lassen.
Crowdfunding einzige Lösung für viele Palästinenser aus Gaza
Während Ausländer weitgehend evakuiert wurden, sitzen die Palästinenser in Gaza fest. Um den letzten noch teilweise geöffneten Grenzübergang Rafah nach Ägypten passieren zu können, kommen sie an einer Adresse nicht vorbei: der Firma „Hala Consulting and Tourism“, die in ebenjenem grauen Bürogebäude in Kairo ihren Sitz hat.
Dort müssen sich Palästinenser nicht nur registrieren, sondern auch pro Person 5000 Dollar in bar bezahlen, zeitweise sogar 10.000 Dollar. Viele, die nicht mal eben so viel Geld auf der hohen Kante haben, verkaufen ihre Besitztümer. Andere versuchen es mit einer Online-Spendensammlung per Crowdfunding. Portale wie „Gofundme“ bieten einen Einblick in unzählige palästinensische Schicksale.
Auch der Berliner Student Nabil Heine erstellt so eine Spendenkampagne für seine Tante Sanaa Murtaja, seine zwei Cousinen Huda und Amna sowie Amnas Eheman Ahmad. Huda ist da bereits schwanger und erkrankt wie die anderen der Familie im Januar durch „unreines Wasser und vergammeltes Essen“ im Kriegsgebiet, erzählt Nabil Heine. Die Leidensgeschichte der eigenen Familie öffentlich präsentieren zu müssen und um Spenden zu bitten, sei kein gutes Gefühl gewesen, so der Student. Doch er hat Glück: Sein Spendenaufruf wird vielfach geteilt, und der 23-Jährige sammelt 23.000 Euro. Genug, um gemeinsam mit seinen Eltern am 8. März nach Kairo aufzubrechen und sich dort dem Chaos der Firma Hala zu stellen.
Bei unserem ersten Treffen im Januar will Heine auch noch nicht öffentlich sprechen. Zu groß die Angst, dass das die Rettung seiner Familienmitglieder gefährden könnte.
Dubiose Agentur mit Verbindung in den Sicherheitssektor Ägyptens
In Kairo angekommen, versuchen Heine und seine Eltern mehrmals, sich bei der Agentur Hala zu registrieren. Offizielle Angaben, wie das ablaufen solle, habe es nicht gegeben. Soziale Medien sind die einzige Informationsquelle. Eine Telegram-Gruppe wächst im Februar innerhalb von zwei Wochen von 2000 auf 16.000 Mitglieder an, inzwischen sind es fast 22.000. „Das zeigt, wie viele Menschen in derselben verzweifelten Situation sind wie wir“, sagt Heine.
In der Telegram-Gruppe, in die wir Einsicht haben, werden Listen der Menschen geteilt, die Gaza verlassen dürfen. Von kleinen Kindern bis alten Menschen sind alle Altersgruppen vertreten, so viel verraten die Geburtsdaten. Ein offizieller Infokanal der Firma Hala ist die Gruppe nicht.
Eigentümer der Hala ist Ibrahim El-Argany, ein ägyptischer Geschäftsmann, der mit einem Netzwerk aus Unternehmen, das bis in die ägyptischen Sicherheitsbehörden reichen soll, innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Kontrolle über die Sinaihalbinsel erlangt hat.
Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl
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„Das Wachpersonal schrie alle an, sofort rauszugehen“
Am 11. Februar, einem Sonntag – in Ägypten der erste Werktag der Woche – versuchen die Heines zum ersten Mal, ihre Verwandten auf eine dieser Listen zu bringen. Immer sonntags sei die Anmeldung geöffnet, so die Gerüchte. Nach fast vier Stunden des Wartens teilte man ihnen mit, dass eine Registrierung an diesem Tag nicht möglich sei. „Also sind wir in der Nähe kurz etwas essen gegangen“, berichtet Heine. Just in dieser Zeit habe Hala ein Onlineformular für Anmeldungen freigeschaltet – jedoch nur für 15 Minuten. „Wir konnten uns also nicht registrieren.“
Manche, die Heine in der Straße vor Hala traf, warteten zehn, zwölf Stunden. Immer wieder seien Menschen offenbar willkürlich hereingerufen worden. Geld? Gute Beziehungen? Für Heine nicht ersichtlich: „Es war total verwirrend“, erzählt er.
Der Sicherheitsdienst der Firma habe immer wieder Menschen unfreundlich angesprochen, sogar angeschrien. An einem Tag wurden nur die draußen wartenden Frauen hereingeholt. Also nahm Heines Mutter das Bargeld und die Dokumente. Nach zwei Stunden kamen alle wieder heraus, manche weinten. „Meine Mutter erzählte, dass sie in einem Warteraum ausharrten, bis plötzlich das Wachpersonal alle anschrie, dass sie sofort rausgehen sollten“, berichtet Heine. Bis dahin habe er kaum jemanden weinen sehen, die Menschen seien eher frustriert und auf ihr Anliegen fokussiert gewesen. Die absurde Willkür habe Frust in Verzweiflung umschlagen lassen.
Am Montag, dem 19. Februar, sah Heine zum ersten Mal eine offizielle Mitteilung von Hala. Gepostet um Mitternacht auf Facebook, ließ die Firma wissen, dass am Folgetag alle nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ registriert werden würden. Heine, der seinen Eltern nicht den Schlaf nehmen wollte, wartete, bis er sie um 6 Uhr geweckt habe. „Rückblickend betrachtet war das ein Fehler.“
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Nach drei Wochen Limbo in Kairo: Endlich registriert
Um 7 Uhr standen sie bei Hala auf der Matte. Viele warteten bereits seit 2 Uhr nachts dort. „Zum Glück konnten wir uns trotzdem endlich anmelden“, sagt Heine. Die Familie übergab 20.000 Dollar in bar. Sind die Angehörigen in Gaza einmal bei Hala registriert, heißt es in den meisten Fällen warten, bis sie ausreisen dürfen. Heine kenne jedoch auch Fälle, die nach der Registrierung nie wieder etwas von der Firma gehört hätten.
Nicht so bei Heines Verwandten. Zehn Tage später, am 29. Februar, verlassen seine Cousinen, seine Tante und der Ehemann einer Cousine endlich Gaza. Die Erleichterung ist riesig. In Kairo möchten sie nun Fuß fassen. Dort leben bereits weitere geflüchtete Angehörige der Heines.
Kurz nachdem die vier Gaza verlassen können, entscheidet sich die Schwester der beiden Cousinen, Manal Abu Hamdan, mit ihren zwei Kindern Aiya und Moeen ebenfalls zur Flucht. „Schweren Herzens“, wie Heine sagt, denn ihr Mann bleibe bei seinen Eltern. Heine hat jetzt auch für sie eine Crowdfunding-Initiative gestartet.
„Bitterer Beigeschmack“: Angst, nie zurückkehren zu können
Die Willkür und Schikane durch die beteiligten Unternehmen und Behörden trifft Menschen in größter Verzweiflung. „Das alles hatte eine sehr grausame Seite“, erinnert sich Heine im März, zurück in Berlin. So groß die Freude über die Rettung seiner Verwandten sei, sie habe einen bitteren Beigeschmack. „Wir mussten so viel Geld bezahlen und uns bloßstellen, nur damit unsere Familie ihre Heimat verlassen konnte.“
Die Angst, nicht mehr nach Gaza zurückkehren zu können, ist unter Palästinensern verbreitet. „Es ist auch nicht realistisch, dass sie zurückkehren“, meint Heine. Laut einer BBC-Auswertung steht nur noch weniger als die Hälfte der Gebäude in Gaza. Das Haus der Familie sei höchstwahrscheinlich zerstört.
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