Washington. Die Unbeliebtheit der Spitzenkandidaten ruft Dritte auf den Plan. Siegchancen haben sie nicht. Aber sie könnten die Wahl entscheiden.
Joe Biden weiß – aus der Beobachterperspektive –, wie es ist, wenn einem Demokraten von außen der Schneid abgekauft wird. Im Jahr 2000 unterlag sein Parteifreund Al Gore im Rennen um die Präsidentschaft dem RepublikanerGeorge W. Bush in Florida um ganze 537 Stimmen. Dabei wog schwer, dass der linke Umweltanwalt Ralph Nader im Sonnenschein-Bundesstaat als unabhängiger Kandidat knapp 98.000 Stimmen eingesammelt hatte; das Gros davon in der Wählerschaft links der Mitte.
„Nader hat uns die Wahl gekostet”, schlussfolgerte Biden damals zerknirscht. 25 Jahre später könnte dem amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten nach Analyse von Wahlforschern im November etwas Ähnliches passieren. Die Unbeliebtheit seiner Person und der seines mutmaßlichen republikanischen Herausforderers Donald Trump, die von weit über 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler abgelehnt werden, hat mehrere außerhalb des Zwei-Parteien-Systems agierende Drittkandidaten auf den Plan gerufen.
Lesen Sie auch: Trumps wirre Auftritte – Experte sieht Anzeichen von Demenz
Siegchancen haben sie nicht. Aber sie können nennenswert Stimmen abschöpfen – meist zugunsten Trumps, wie Analysten mehrheitlich prophezeien. Vor allem ein Name mit bekanntem Klang fällt dabei ins Gewicht: Robert F. Kennedy Jr. Der Neffe des ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy und Sohn des ebenfalls getöteten Justizministers Robert F. Kennedy war bis Herbst vergangenen Jahres noch auf dem Ticket der Demokraten unterwegs.
US-Wahlen: Drittkandidaten können Biden wichtige Stimmen kosten
Auch auf Druck des Kennedy-Clans, wo er nicht einen einzigen Fürsprecher, aber viele erbitterte Feinde hat, erklärte der frühere Umweltanwalt im Oktober, er werde als unabhängiger Kandidat antreten. Kennedy wird in Umfragen auf 15 Prozent plus x taxiert, kein anderer Kandidat kommt auf solche Werte. Vor allem in jüngeren Wählerschichten hat der 70-Jährige einen Stein im Brett. Er ist thematisch nicht durchgängig klar zu verorten. Sozialpolitisch vertritt Kennedy einen starken Wohlfahrtsstaat, außenpolitisch ist er Isolationist und will die USA, die er als „imperialistisch” bezeichnet, aus militärischen Interventionen heraushalten.
Kennedy hat sich in der Corona-Pandemie als Impfgegner stilisiert, seine Einschätzungen grenzten an Verschwörungstheorien. So verbreitete er die Behauptung, Impfungen würden bei Kindern Autismus auslösen. Dazu setzte er den Unfug in die Welt, nur Weiße und Schwarze würden coronakrank, nicht aber Juden und Chinesen. Kennedy gehört in Kalifornien zur Westküstenelite, ist mehrfacher Millionär und mit der Schauspielerin Cheryl Hines verheiratet, die aus der TV-Comedy-Serie „Curb Your Enthusiasm” bekannt ist. Er hat den Milliardär Timothy Mellon als Geldgeber im Rücken.
- Gut informiert: Aktuelle Nachrichten rund um die US-Wahl 2024 im Newsblog
- Supreme Court: Reaktionen auf Trump-Urteil – „Todesstoß” für US-Demokratie
- Erfolg vor Gericht: Supreme Court gesteht Trump Immunität zu – teilweise
- Nach TV-Schlappe: Joe Biden gibt nicht auf – US-Präsident als „Comeback-Kid“?
- Hintergrund erklärt: Hinter Trumps Nähe zum MMA-Kampfsport steckt ein Kalkül
Kennedy schon in sieben Bundesstaaten auf Stimmzetteln
Aber die Hürden sind hoch. Alle 50 Bundesstaaten haben individuelle Zugangsberechtigungen für die Präsidentschaftswahl. Meist müssen zunächst einige Zehntausend Unterstützungsunterschriften beigebracht werden. Dafür ist Zeit bis August. Derzeit ist Kennedy in Arizona, Georgia, South Carolina, Utah, New Hampshire, Nevada und Hawaii startklar. In Michigan stehe man kurz davor, sagt ein Sprecher. Weitere Bundesstaaten würden folgen.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Joe Biden 2020 das Trio Georgia, Nevada und Arizona mit nur 60.000 Stimmen Vorsprung vor Trump gewann, wird die potenzielle Gefahr deutlich. Zieht bei erwartet knappem Ausgang zwischen Biden und Trump ein unabhängiger Kandidat nur ein paar Tausend Stimmen ab, kann das spielentscheidend sein. Hier hilft ein Blick zurück: 1992 erzielte der texanische Milliardär Ross Perot mit fast 19 Prozent mehr als einen Achtungserfolg. Der demokratische Kandidat Bill Clinton wurde mit nur 43 Prozent Präsident. Der republikanische Amtsinhaber George H. W. Bush war mit 37,5 Prozent unterlegen.
Sprung zurück ins Hier und Jetzt: Kennedy ist nicht allein. Für die Partei der Grünen will wie schon 2016 Jill Stein den „Großen“ die Tour vermasseln. Die Umweltaktivistin trug vor acht Jahren maßgeblich dazu bei, dass Trump Präsident wurde. Die 73-Jährige zog bei der damaligen demokratischen Kandidatin Hillary Clinton in umkämpften Bundesstaaten wie Wisconsin insgesamt 1,4 Millionen Stimmen ab.
Cornel West, afroamerikanischer Philosophie-Professor und Bürgerrechtler, tritt ebenfalls als parteiunabhängiger Kandidat an. Der Akademiker ist häufiger im US-Fernsehen zu sehen. Er hält das verkrustete Zwei-Parteien-System für die Wurzel allen Übels und predigt einen starken Sozialstaat, der rassistisch bedingte Ungleichheit und Benachteiligung bekämpft.
USA: Bündnis „No Labels“ will eigenen Kandidaten aufstellen
Und da ist noch die große Unbekannte. Das parteiübergreifende Bündnis „No Labels“ (auf Deutsch etwa: „Ohne Bezeichnung“) will im Laufe dieses Monats einen eigenen Kandidaten benennen. Die Gruppierung, die von dem früheren demokratischen Senator Joe Lieberman geprägt ist, hatte bereits die Fühler nach Senator Joe Manchin (West Virginia), Senatorin Kyrsten Sinema (Arizona), Trumps letzter Konkurrentin Nikki Haley und Larry Hogan (Ex-Gouverneur von Maryland) ausgestreckt.
Allesamt lehnten die Offerte mit der Begründung ab, sie wollten nicht Biden schaden und Trump in die Hände spielen. Zurzeit wird der ehemalige stellvertretende Gouverneur von Georgia, Geoff Duncan, ein hartnäckiger Trump-Gegner, als Kandidat gehandelt. Sein Bekanntheitsgrad landesweit geht jedoch gegen null.
„No Labels“ verzeichnet seit dem De-facto-Ende der demokratischen wie republikanischen Vorwahlen vermehrt feindselige Angriffe. Das Argument der Kritiker: Wähler, die Biden wie Trump ablehnen, sogenannte Double Hater, würden unter normalen Bedingungen im Ernstfall trotz aller Vorbehalte wieder Biden wählen, um einen „zweiten Trump-Albtraum“ zu verhindern. Gibt man ihnen jedoch eine Alternative außerhalb der großen Parteien, könnte Trump obsiegen, weil der „Neue“ Anti-Trump-Stimmen abschöpft, die Joe Biden am Ende fehlen würden.
- Vereinigte Staaten: Geschichte, Bevölkerung, Geografie – Die wichtigsten Fakten zu den USA
- Demokratie in den USA: Die Wahlsysteme von Deutschland und den USA im Vergleich
- Die erste Kammer im US-Kongress: Alle Fakten rund um das US-Repräsentantenhaus
- Die Vertretung der Bundesstaaten: Die wichtigsten Infos zum US-Senat