Moskau. Die Parallelen zum Schicksal von Nawalny erschüttern: Nun wächst die Sorge um den bekanntesten noch in Russland lebenden Kremlkritiker.
Bei seiner Vernehmung im April 2023 erinnert der vorsitzende Richter Wladimir Kara-Mursa daran, dass „Reue für die begangene Tat“ ein mildernder Umstand sei. „Obwohl ich derzeit wenig Erfreuliches erlebe, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken“, antwortet der Angeklagte in seinem Schlusswort. Dann wird er unter anderem wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager verurteilt. 25 Jahre – das ist die bis dahin höchste Haftstrafe, die in Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.
„Verbrecher sollten begangene Straftaten bereuen“, sagt Kara-Mursa. „Aber ich bin im Gefängnis wegen meiner politischen Ansichten.“ Der Vorwurf der Justiz gegen Kara-Mursa lautet, er habe „falsche Informationen“ über die russische Armee verbreitet und Verbindungen zu einer „unerwünschten Organisation“ unterhalten. Der Oppositionalle glaubt, dass seine Auftritte gegen den Krieg in der Ukraine und sein „langjähriger Kampf gegen Putins Diktatur“ der eigentliche Hintergrund für seine Inhaftierung sind. „Und ich bereue nichts von alledem – ich bin stolz darauf“, sagt er.
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Kara-Mursas Geschichte weist viele Parallelen auf zum Schicksal des verstorbenen Alexej Nawalny. Auch er wurde in ein Straflager nach Sibirien verbracht. Wie Nawalny war auch er tagelang verschwunden, als er in ein anderes Lager verlegt wurde. Es kommt immer wieder vor, dass inhaftierte Regimegegner im russischen Gefängnissystem für einen gewissen Zeitraum regelrecht verschwinden – und der Kontakt zu Familien, Freunden und sogar Anwälten abrupt abreißt. Menschenrechtler kritisieren diese Praxis als Schikane von Seiten des russischen Strafvollzugs.
Kara-Mursa stand Nawalny und Boris Nemzow nahe - beide sind tot
Wie Nawalny kam auch Kara-Mursa in Isolationshaft, nach Angaben seiner Anwältin für vier Monate. Im Januar dieses Jahres sei er im Straflager wegen eines „böswilligen Verstoßes“ erneut vorgeladen worden, berichtet das Online-Medium RBC. Angeblich habe er eines Morgens den Befehl „Aufstehen!“ ignoriert.
Wladimir Kara-Mursa wurde am 7. September 1981 in Moskau geboren. Sein Vater war Journalist, „Mitglied der Russischen Fernsehakademie“. Schon seit seinem 16. Lebensjahr arbeitete Sohn Wladimir im Medienbereich. Später ging er nach Großbritannien, studierte Geschichte in Cambridge – und arbeitete in der Folge für verschiedene russische Medien, unter anderem für die Zeitung „Kommersant“. Politisch hatte sich Kara-Mursa jahrelang für westliche Sanktionen gegen den Kreml eingesetzt. Er stand sowohl Nawalny als auch dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow nahe.
Nemzow wurde im Februar 2015 auf einer Brücke in Moskau, nur wenige Meter vom Kreml entfernt, mit vier Schüssen in den Rücken ermordet. Seine Unterstützer beschuldigten den Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, den Mord in Auftrag gegeben zu haben. Fünf Tschetschenen wurden verurteilt, ohne dass der Drahtzieher offiziell benannt wurde.
Kara-Mursa überlebte zwei Giftanschläge, leidet an Nervenkrankheit
Im Mai 2015 verübten Unbekannte auch auf Kara-Mursa einen Anschlag. Er wurde mit Anzeichen einer schweren Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert und ins künstliche Koma versetzt. 2017 gab es einen erneuten Giftanschlag auf den Politiker. Die Diagnose lautete „toxische Wirkung einer nicht gemeldeten Substanz“. Sein Blut ließ er in Frankreich analysieren, man fand eine hohe Konzentrationen verschiedener Giftstoffe – unter anderem erhöhte Quecksilber-Werte. Seine Familie und Anwälte sagen, dass Kara-Mursa wegen dieser zwei Vergiftungsversuche heute unter der Nervenerkrankung Polyneuropathie leidet.
Nach Nawalnys Tod hatte Kara-Mursa die russische Opposition, die sich überwiegend im Exil befindet, aufgefordert nicht nachzulassen. „Wenn wir uns der Düsternis und Verzweiflung hingeben, ist das genau das, was sie wollen.“ Den Kampf für Demokratie nach Nawalnys Tod aufzugeben, sei keine Option. „Wir haben kein Recht dazu“, appellierte Kara-Mursa an die Menschen in Russland. Er äußerte die Hoffnung, „Russland zu einem normalen, freien, europäischen und demokratischen Land zu machen“.
Julia Nawalnaja, Nawalnys Witwe, wird wohl die neue Gallionsfigur der russischen Opposition im Exil werden. Ob sie Erfolg haben wird? Sie müsse aus dem Schatten ihres Mannes heraustreten und ein eigenes Profil als selbstständige politische Figur mit einem Team herausbilden, meint die Politologin Tatjana Stanowaja. Denn: Viele weitere prominente Oppositionelle und Menschenrechtler sitzen im Gefängnis. Jüngst wurde Oleg Orlow von der mittlerweile verbotenen Organisation „Memorial“ zu zweieinhalb Jahren Straflager verurteilt. Das Vergehen des 70-Jährigen: Kritik am Krieg gegen die Ukraine.
Achteinhalb Jahre Gefängnis lautete das Urteil gegen Politiker Ilja Jaschin. Er hatte die Ermordung von Zivilisten in der ukrainischen Stadt Butscha angeprangert. Xenia Fadejewa, frühere Abgeordnete und Verbündete Nawalnys, musste Ende 2023 eine neunjährige Haftstrafe antreten. Die Behörden werfen der 31-Jährigen vor, eine „extremistische Organisation“ gegründet zu haben. Mit derselben Begründung wurde auch Lilia Tschanyschewa, Mitarbeiterin von Nawalny, im Juni 2023 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Gerade hat die Staatsanwaltschaft beantragt, die Strafe auf zehn Jahre zu erhöhen.
Das Vorgehen gegen die wenigen verbliebenen Oppositionellen ist brutal. Wladimir Kara-Mursa will dennoch nicht aufgeben, er sagt in seinem Schlusswort vor Gericht im April 2023. „Sogar heute, sogar in dieser Dunkelheit, die uns umgibt, sogar in diesem Käfig, liebe ich mein Land und glaube an seine Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg meistern können.“
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