Berlin. Israels Premier Netanjahu will die Hamas mit einer Bodenoffensive in Rafah endgültig besiegen. Doch seine wahren Ziele verschleiert er.
Der Showdown im Kampf zwischen Israel und der militant-islamistischen Hamas rückt näher. Israels Premier Benjamin Netanjahu will der Hamas in ihrem letzten Rückzugsort in Rafah im Süden des Gazastreifens einen vernichtenden Schlag versetzen. Doch was passiert dann mit den rund 1,4 Millionen palästinensischen Flüchtlingen? Drei Szenarien sind möglich.
Szenario 1: Volle Militär-Offensive Israels und Evakuierung der Palästinenser
Netanjahu hält an seinem Kardinalziel fest, das er unmittelbar nach den Terrorangriffen der islamistischen Hamas am 7. Oktober formuliert hat: Tötung der Hamas-Kämpfer und Vernichtung ihres Terrornetzwerks. Netanjahu prophezeite einen Sieg „innerhalb von Wochen“, sobald die Bodenoffensive in Rafah begonnen habe. Gleichzeitig betonte der Premier, dass nur so die mehr als 130 israelischen Geiseln befreit werden könnten. Rafah ist die letzte militärische Hochburg der Hamas. Hier verfügen die Islamisten nach israelischen Angaben über vier Bataillone.
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Netanjahu verfolgt mit der Militäraktion in Rafah auch eine politische Agenda. Der Premier erhofft sich einen Anstieg seiner Beliebtheitswerte, die nach den Terrorattacken der Hamas und den damit verbundenen eklatanten Sicherheitsmängeln stark abgestürzt waren. Die Evakuierung von rund 1,4 Millionen Palästinensern aus Rafah könnte die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen aber noch verschlimmern. Die weitgehend zerstörte Stadt, in der normalerweise rund 400.000 Einwohner leben, hat etwa eine Million Flüchtlinge aus dem Zentrum und dem Norden des Gazastreifens hinzubekommen.
Viele hausen in notdürftig errichteten Zelten oder auf Matratzen. Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente sind äußerst knapp. Aus israelischen Militärkreisen heißt es, die Evakuierung solle Richtung Zentrum oder Norden des Gazastreifens erfolgen. Doch dort sind viele Ortschaften durch die israelischen Angriffe völlig zerstört, die humanitäre Versorgung wäre noch schwieriger als in Rafah. Es wird deshalb auch über die Unterbringung von Flüchtlingen auf der zu Ägypten gehörenden Sinai-Halbinsel spekuliert. Die ägyptische Regierung richte offenbar ein Auffanglager zur Unterbringung von bis zu 100.000 Palästinensern am Grenzgebiet zum Gazastreifen ein, berichtete das „Wall Street Journal“.
Offiziell droht die ägyptische Regierung, den Camp-David-Friedensvertrag mit Israel von 1979 zu kündigen, sollte Netanjahu eine Flüchtlingswelle Richtung Ägypten auslösen. Doch in Wahrheit ist die Position Kairos schwammig. Außenminister Sami Schukri unterstrich, dass sein Land nicht vorhabe, vertriebene Palästinensern Unterschlupf zu gewähren. Allerdings fügte er hinzu: „Wenn uns vollendete Tatsachen aufgezwungen werden, werden wir mit der Situation umgehen und humanitäre Unterstützung anbieten.“
Szenario 2: Beschränkte israelische Militär-Offensive ohne Evakuierung
Nach diesem Szenario startet Israel eine Militär-Operation in Rafah mit angezogener Handbremse. Demnach könnte die Hamas auch auf diese Weise deutlich geschwächt werden und müsste auf Israels Bedingungen für eine Feuerpause eingehen. Eine groß angelegte Evakuierung palästinensischer Flüchtlinge würde vermutlich entfallen. Dennoch bergen weitere israelische Militäreinsätze die Gefahr von noch mehr zivilen Todesopfern.
Nach Ansicht von Daniel Gerlach von der Berliner Denkfabrik Candid Foundation steckt hinter Netanjahus scharfer Rhetorik auch politische Berechnung. „Netanjahu versucht derzeit, maximalen Druck auf die Hamas – aber auch die internationalen Unterhändler – auszuüben und die Drohkulisse hochzufahren. Er will damit erreichen, dass die Hamas ihre Forderungen nach Freilassung von vielen palästinensischen Häftlingen aus Israel zurückschraubt und schnelle Zugeständnisse macht“, sagte er unserer Redaktion.
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„Netanjahus Drohkulisse ist auch ein taktisches Manöver – zumal auch die Amerikaner die Geduld zu verlieren scheinen und er den Eindruck vermeiden möchte, er reagiere auf Druck von außen.“ Gerlach rechnet mit einer begrenzten israelischen Militäroperation. „Die Israelis werden in Rafah eine Militäroffensive durchführen, de facto gibt es ja bereits zahlreiche Einsätze und Angriffe dort. Ich denke nicht, dass sie es mit der Intensität tun werden, wie dies in Gaza-Stadt oder in Khan Junis zu beobachten war. Würden sie das tun, würden sie den Tod von weiteren 30.000 Zivilisten oder mehr in Kauf nehmen.“
Szenario 3: Absage der israelischen Militär-Offensive und ein Geisel-Deal
Dieses Szenario geht davon aus, dass Israel den Militäreinsatz in Rafah abbläst. Demnach würde der Druck der internationalen Gemeinschaft, der Regionalmächte und des für Israel wichtigen Nachbarn Ägypten Wirkung zeigen. Die miserable Lage der Palästinenser im Gazastreifen dürfte aber auch so nicht gelindert werden. Auch der Druck der Angehörigen von israelischen Geiseln sollte nicht unterschätzt werden: Sie kritisieren Netanjahu seit Wochen dafür, das Schicksal der Entführten nicht zur Priorität Nummer eins gemacht zu haben.
Amerika, Israel, Ägypten und Katar verhandeln derzeit über einen Geisel-Deal: die Freilassung der israelischen Gefangenen gegen die Auslieferung einer Vielzahl von palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen. Doch Netanjahu wiegelt ab. Sollte es zu einem Abkommen über den Geisel-Deal und eine Feuerpause kommen, werde sich dieses lediglich „etwas verzögern“, betonte er. Der militärische Sieg über die Hamas hat für ihn Vorrang.
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