Brüssel/Berlin. Neue Daten zeigen: Nach zwei Jahren Sanktionspolitik schwächelt Europa mehr als Russland. Wie Experten das erklären, was helfen kann.
Zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine wollte die Europäische Union dringend ein Zeichen setzen. „Wir müssen Putins Kriegsmaschinerie weiter schwächen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des mittlerweile 13. Sanktionspakets. 200 weitere Personen werden mit Vermögenssperren belegt, dazu Firmen in der Türkei, Indien und China. Doch dass Russland damit spürbar geschwächt würde, erwartet in Brüssel kaum jemand, sicher auch von der Leyen nicht.
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Zeitgleich mehren sich die schlechten Nachrichten: Russlands Gewinne aus Rohölverkäufen bleiben auf hohem Niveau. Neue Studien zeichnen akribisch nach, wie das Putin-Regime die Sanktionen vor allem über Zentralasien und die Türkei umgeht. Und
eine Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) sagt Russland in diesem Jahr ein ordentliches Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent voraus, nach drei Prozent im Vorjahr – deutlich stärker als die schwächelnde Wirtschaft in Deutschland und anderen großen EU-Staaten.
Wladimir Putin umgeht Sanktionen mit Netz von Tarnfirmen
„Es geht der russischen Wirtschaft definitiv besser, als wir und viele andere erwartet hatten“, sagt IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas. Putins Kriegswirtschaft mit massiv gesteigerter Rüstungsproduktion trägt ebenso dazu bei wie die Einnahmen aus Energieexporten. Als die Europäische Union gleich nach Kriegsbeginn die ersten Strafmaßnahmen verhängte, hatte von der Leyen noch „die schärfsten Sanktionen, die die Welt je gesehen hat“, angekündigt. Präsident Wladimir Putin dürfe „keinerlei Möglichkeit haben, den brutalen Krieg weiter zu finanzieren“, meinte sie. Dieses Ziel ist bislang weit verfehlt.
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„Sanktionen und Exportkontrollen haben die Kriegswirtschaft Russlands behindert, aber nicht lahmgelegt“, erklärt der Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. China habe geholfen, aber vor allem habe sich Russland auf die umfangreiche Erfahrung des russischen Geheimdienstes verlassen, um ein Netzwerk von Tarnfirmen in Drittländern aufzubauen und so Sanktionen zu umgehen. „Die Importe von sensiblem Material und Teilen nach Russland, insbesondere von Halbleitern und Werkzeugmaschinen, sind heute mehr oder weniger auf dem Niveau von vor dem Krieg“, bilanziert Gressel. „Trotz Sanktionen produziert Russland jeden Monat bis zu 100 Marschflugkörper und ballistische Raketen.“
Der Hamburger Sanktionsforscher Christian von Soest meint, die Strafmaßnahmen hätten den Handlungsspielraum Moskaus eingeschränkt und die Kosten in die Höhe getrieben. Aber: „Die Aussichten, den Rückzug russischer Truppen aus der mit Wirtschaftssanktionen zu erzwingen, waren von Anfang an verschwindend gering.“
Russland: Champagner ist sanktioniert, nicht aber Prosecco
Dabei ist der Umfang der Strafen gewaltig: Sie reichen von der Sperrung russischen Staatsvermögens über Einreiseverbote, Exportverbote vor allem für Hochtechnologie bis zu Einfuhrsperren für russische Güter. Sie würden das Wirtschaftswachstum Russlands senken, versprach die EU-Spitze, den Zugang zu Schlüsseltechnologien und Märkten blockieren, Inflation erhöhen, Kapitalflucht beschleunigen – und so die Kriegskasse immer weiter schmälern. Der Misserfolg hat vier Gründe. Erstens: fehlende Konsequenz. Die EU-Exporte nach Russland sind zwar auf 37 Prozent des Vorkriegsniveaus gesunken, aber sie sind „immer noch hoch“, heißt es in einer neuen Studie des Münchner Ifo-Instituts. Nur ein Drittel aller Produkte aus der EU sei überhaupt betroffen: „Bei Luxusgütern ist beispielsweise der Export von Champagner nach Russland sanktioniert, nicht aber von Prosecco“, sagt Ifo-Ökonomin Feodora Teti.
Zweitens: zu wenig Bündnispartner. Viele der sanktionierten EU-Waren bezieht Russland nun indirekt über Drittländer. Die Ausfuhren von Maschinen und Autos in Russlands Nachbarschaft wie Belarus, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan zeigen enorme Wachstumsraten, die sich nicht mit einem höheren Bedarf in den Staaten selbst erklären lassen. Nach Ifo-Daten bezieht Russland 61 Prozent der sanktionierten Produkte aus China, fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Aus der Türkei kommen demnach 13 Prozent aller vom Westen sanktionierten Waren.
Russland kauft weiter westliche Mikrochips
Ukrainische Experten berichten, Russland habe von Januar bis Oktober 2023 kritische Komponenten für den Waffenbau im Wert von neun Milliarden Dollar importiert – nur zehn Prozent weniger als vor dem Krieg. Darunter offenbar auch neue Chips von europäischen und US-Unternehmen für mehr als eine Milliarde Dollar, wie eine Analyse vertraulicher Zolldaten durch das Nachrichtenportal Bloomberg ergeben hat.
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Drittens hat sich Putin Waffenhilfe gesichert, vor allem aus dem Iran und Nordkorea. Nordkoreas Diktator Kim Jong-un hat offenbar schon eine Million Artilleriegeschosse geliefert, der Iran hilft vor allem mit Drohnentechnik. Zugleich hat Putin schnell die Rüstungsproduktion auf Hochtouren gebracht; 40 Prozent der Staatsausgaben fließen in die Armee. Nicht Russland geht die Munition aus, sondern der Ukraine – der Westen kann nicht schnell genug liefern.
Behält die EU russisches Staatsvermögen ein?
Viertens sorgt die russische Exportwirtschaft für relativ stabile Einnahmen. Beispiel Öl: Zwar sind die Öllieferungen aus Russland über den Seeweg in die EU seit Ende 2022 gestoppt, für den Verkauf in Drittstaaten hat eine westliche Allianz eine Preisobergrenze von 60 Dollar je Barrel eingeführt. Doch der Preisdeckel funktioniert nicht mehr richtig. Russland fand neue Lieferwege. Heute kauft vor allem Indien das russische Öl – und verkauft es offenbar auch nach Deutschland weiter, wie die dramatisch gestiegenen Einfuhren von Mineralölerzeugnissen aus Indien zeigen.
Russland liefert immer noch Atombrennstoff an Länder Osteuropas, während Frankreich mit dem russischen Atomkonzern Rosatom zusammenarbeitet. Und die EU-Importe von russischem Flüssigerdgas beliefen sich voriges Jahr auf immerhin fast 20 Milliarden Kubikmeter, nur etwas weniger als 2022. „Es ist kaum erklärlich, warum Europa nun offensichtlich in großem Stil ursprünglich aus Russland stammendes LNG-Gas bezieht“, kritisiert der Sanktionsforscher Christian von Soest.
„Zumindest vorerst bedeutet ein Zermürbungskrieg einen russischen Sieg“
Aber unter den EU-Regierungschefs ist die Bereitschaft gesunken, die Daumenschrauben für Putins Regime weiter anzuziehen und eigene wirtschaftliche Nachteile zu riskieren. Als drakonische Strafe bliebe noch, die vom Westen gesperrten russischen Devisenreserven von 300 Milliarden Euro zu enteignen und der Ukraine zu schenken. Der Großteil des Geldes liegt in Europa.
Doch ein solcher Zugriff wäre ein offener Bruch des Völkerrechts – der „beispiellose Schritt“ könnte das Vertrauen von Anlegern in den Finanzstandort Europa schwer beschädigen und damit der Gemeinschaftswährung sehr schaden, warnt die Europäische Zentralbank. Deutschland, Italien und Frankreich sperren sich deshalb gegen den Schritt. Überlegt wird jetzt, zumindest die Zinseinnahmen von jährlich etwa vier Milliarden Euro an die Ukraine zu überweisen, doch auch dagegen gibt es Bedenken.
„Vorschläge, die Wirksamkeit der Sanktionen zu erhöhen, gibt es in Hülle und Fülle“, meint Sicherheitsexperte Gressel. Aber der Westen sollte seinen Kriegsplan nicht auf die Vorstellung stützen, dass Sanktionen Russland die Fähigkeit zur Fortsetzung des Krieges nehmen könnten. Statt die Schwächung Russlands zu verfolgen, müsse der Westen die Ukraine mit mehr Ausrüstung stärken: Die russische Industrie könne die Verluste der Armee schneller ersetzen, als der Westen es derzeit für die Ukraine zu tun bereit sei. „Zumindest vorerst“, warnt Gressel, „bedeutet ein Zermürbungskrieg einen russischen Sieg.“