Berlin. Oleksii Makeiev blickt düster auf die Lage an der Front in der Ukraine. Gleichzeitig sagt er: Deutschland hat sich massiv gewandelt.

Es sieht düster aus an der ukrainischen Front. Auf dem Schlachtfeld fehlt es an Munition, die Soldaten sind erschöpft und es kommen zu wenige nach. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des Überfalls Russlands auf die Ukraine blickt der Botschafter des Landes mit gemischten Gefühlen auf die Lage.

Herr Botschafter, vor zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihr Land und Deutschland haben seitdem ein besonderes Verhältnis zueinander entwickelt. Welche Begriffe fallen Ihnen ein, um diesen holprigen Prozess zu beschreiben?

Oleksii Makeiev: Ich weiß noch genau, was für mich das Unwort des Jahres 2022 war: Ringtausch – also die Lieferung deutscher Waffen an Nato-Partner, die dann ihrerseits alte Bestände an die Ukraine weiterreichten. Das Wort stand exemplarisch für Deutschlands anfängliches Zögern, uns modernes Kriegsgerät zu überlassen. Das ist lange her, inzwischen ist Deutschland der zweitwichtigste Unterstützer der Ukraine nach den USA und liefert höchst moderne Waffen.

Fällt Ihnen auch dazu ein Begriff ein?

Führungsrolle. Deutschland hat unter Bundeskanzler Olaf Scholz eine Führungsrolle bei der Unterstützung unseres Landes eingenommen. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Kanzler sagt immer: Wir werden der Ukraine so lange helfen, wie das nötig ist. Der Satz gefällt mir gut. Ich würde es allerdings begrüßen, wenn er in der öffentlichen Debatte hierzulande und in Europa von allen beteiligen Akteuren erweitert würde. Und zwar so: Wir werden die Ukraine so lange wie nötig mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, damit sie diesen Krieg gegen Russland gewinnt – denn die Ukraine kämpft auch für unsere Freiheit. Auf dem Spiel steht Europas Sicherheit. Es ist wichtig, das zu verstehen.

Wie ist die Lage auf dem Schlachtfeld zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion?

An der Front ist die Lage sehr kompliziert. Täglich bombardieren die Russen unsere Städte, zivile Einrichtungen und die Energie-Infrastruktur. In der Ukraine wird heftig darüber diskutiert, wie es gelingen kann, die Soldatinnen und Soldaten auszutauschen, die seit zwei Jahren in den Schützengräben kämpfen.

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Im Westen macht sich eine zunehmende Kriegsmüdigkeit breit. Die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, sinkt. Haben Sie dafür Verständnis?

Mit Verlaub: Die Menschen im Westen sind möglicherweise kriegsberichterstattungsmüde. Kriegsmüde hingegen können nur diejenigen sein, die selbst im Krieg sind. Wenn Sie die Leute in der Ukraine fragen, ob sie kriegsmüde seien, dann sagen sie: Wir sind erschöpft zwei Jahre nach Beginn dieser genozidalen russischen Invasion und zehn Jahre nach Besatzung der Krim und östlichen Gebieten von Donbass. Natürlich gibt es überall schlaflose Nächte im Land und bei den Ukrainern in Europa. Aber haben wir eine andere Wahl, als das zu tun, was wir tun? Wir sind in einem Überlebenskampf. Aufgeben ist keine Option.

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Zurzeit fehlt es Ihren Soldaten vor allem an Munition. Können sich die Dinge in absehbarer Zeit substanziell ändern?

Wir brauchen Munition, und zwar heute, nicht übermorgen. Die Ukraine hat inzwischen selbst angefangen, Munition zu produzieren. Wir sind dabei, in der ganzen Welt Nachschub einzukaufen, und haben begonnen, mit führenden Rüstungskonzernen Gemeinschaftsunternehmen zu gründen. Auch die westlichen Konzerne fahren ihre Produktion hoch. Ich war gerade erst mit Kanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius in Niedersachsen beim ersten Spatenstich für den Bau einer neuen Munitionsfabrik von Rheinmetall.

Teilen Sie die Kritik, die der Kanzler in Brüssel vorgebracht hat, wonach andere europäische Länder viel weniger für die Ukraine tun, als sie könnten?

Sie werden keinen ukrainischen Botschafter finden, der sagen würde, es ist genug, was andere Länder liefern.

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Gilt das auch für Sie als Botschafter in Deutschland?

Ich selbst würde das nur dann sagen, wenn mir Präsident Wolodymyr Selenskyj oder die Militärführung zu verstehen gäben, dass wir jetzt ausreichend ausgestattet sind. Bevor ich im Herbst 2022 mein Amt hier in Berlin antrat, gab mir der Präsident folgenden Auftrag: Bring uns Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Dann kamen die Leopard-Panzer und die Marder. Die Wunschlisten werden nicht hier in diesem Raum zusammengestellt, sondern in Kiew vom Oberbefehlshaber und unseren Militärs. Im Moment fehlt es wie gesagt vor allem an Artillerie. Ja, wir brauchen viel mehr Waffen und Munition!

Aus welchem Land könnte deutlich mehr kommen? Fachleute sagen, dass insbesondere die Franzosen hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben …

Ich freue mich, dass ich Botschafter der Ukraine in Berlin bin und mich mit Deutschland befassen kann. Und ich freue mich sehr, dass der Kanzler bei der Unterstützung unseres Landes eine Führungsrolle übernommen hat und Deutschland liefert!

Der Bundeskanzler hat sich entschieden, der ukrainischen Bitte nach einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern nicht nachzukommen. Denken Sie, dass es hier noch Bewegung geben kann?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Diese Entscheidung liegt allein bei der Bundesregierung. Ich erinnere mich aber an frühere Diskussionen. Auch bei den Panzern hieß es lange, diese Systeme werden nicht geliefert. Irgendwann waren sie dann aber doch da. Das Gleiche gilt für Systeme, über die nie öffentlich diskutiert wurden. Zugleich gab es Dutzende Fälle, in denen einem sehr konkret formulierter Wunsch unsererseits binnen kürzester Zeit entsprochen wurde. Wir sind auf allen Ebenen mit unseren Partnern 24 Stunden am Tag im Gespräch.

Ukrainische Soldaten vor einem Leopard-2-Panzer: Kann der Panzer der Ukraine so helfen, wie man es sich erhofft hat?
Ukrainische Soldaten vor einem Leopard-2-Panzer: Kann der Panzer der Ukraine so helfen, wie man es sich erhofft hat? © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Welche Bedeutung messen Sie dem kürzlich unterzeichneten Sicherheitsabkommen bei?

Deutschland hat, wie schon gesagt, eine führende Rolle bei der Unterstützung der Ukraine übernommen, und das unterzeichnete Sicherheitsabkommen ist ein hervorragendes Zeugnis dafür. Unser Präsident hat gesagt, dieses Abkommen sei das wertvollste und das stärkste, das wir bis dato haben. Es ist in der Tat ein präzedenzloses Dokument. Das spiegelt nicht nur das Niveau der bilateralen Beziehungen wider, sondern auch die fundamentale Rolle Deutschlands für die Wahrung der Normalität in Europa und der Welt.

Die Europäer sind in heller Aufregung, weil der ehemalige US-Präsident Donald Trump die Nato-Beistandsverpflichtung infrage gestellt hat, sollte er abermals in Weiße Haus gewählt werden. Er wirft europäischen Verbündeten vor, zu wenig für die eigene Sicherheit zu tun. Die Ukraine will Mitglied des Nordatlantikpakts werden. Wie bewerten Sie Trumps Äußerungen?

Ich will diese Einlassungen im Detail nicht kommentieren. Wichtig erscheint mir Folgendes: Der russische Angriffskrieg gegen mein Land hat in Deutschland und Europa zu einem Umdenken geführt. Freiheit muss geschützt werden. Dafür müssen sich Staaten bewaffnen, die Militärausgaben müssen steigen. Die Regel, wonach die Nato-Staaten mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung ausgeben sollen, gibt es seit vielen Jahren. Aber nur wenige Länder haben dies befolgt. Das ändert sich jetzt, auch in Deutschland. Nebenbei: Die Ukraine tut jetzt das, wofür einst die Nato geschaffen wurde. Sie schützt Europa vor einer russischen Aggression.

Also hat Trump recht?

Mir geht es nicht darum. Mir geht um das Verständnis, dass Freiheit und Sicherheit einen Preis haben. Das ist die Lehre aus diesem Krieg. Und das müssen Regierungen und Wähler in Europa spätestens jetzt akzeptieren.

Sie befassen sich seit vielen Jahren mit deutscher Politik und Geschichte. Hat sich Deutschland zu lange einer pazifistischen Illusion hingegeben?

Ja, bestimmt. Wir Osteuropäer haben immer gewarnt vor dem Glauben, dass Kooperation und wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland den Frieden in Europa garantieren. Wandel durch Annäherung, Wandel durch Handel: Solche Konzepte mögen in den 1970er Jahren richtig gewesen sein. In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts funktionieren sie nicht mehr. Mit Autokratien, die das nicht wollen, kann man nicht kooperieren. Dies zu erkennen und sein Verhalten neu auszurichten, kommt tatsächlich einer Zeitenwende gleich. Das ist ein wirklicher Quantensprung.

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